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Die Ausgangssperre hat den Gaza-Streifen stranguliert

Ein Drittel der Palästinenser im Gaza-Streifen hat durch den Golfkrieg seinen Job verloren/ Die Ausgangssperre hat die ökonomischen Grundlagen in Gaza zerstört/ Auch die Überweisungen der Verwandten in den Golfstaaten waren für viele Familien ein wichtiges wirtschaftliches Standbein  ■ Aus Gaza Qassem Gidram

Eine 46 Tage andauernde Ausgangssperre, die mit Ausnahme weniger Stunden zu Beginn des Golfkriegs über den von Israel besetzten Gaza- Streifen verhängt wurde, hat dessen 700.000 Einwohner nicht nur psychologisch zermürbt. Auch die ohnehin schon strangulierte palästinensische Wirtschaft im Gaza-Streifen wurde an den Rand einer Katastrophe geführt.

„Es gibt praktisch keine Familie, die nicht ökonomisch geschädigt ist“, erläutert ein in Gaza ansässiger Journalist. „Wir stehen vor einem totalen ökonomischen Stillstand“, faßt der Ökonom Salah Abdel Shafi, der Direktor eines von der EG finanzierten Kreditinstituts für Entwicklungsprojekte, die Lage zusammen.

„Die Menschen haben einfach kein Geld mehr, um etwas zu kaufen“

Am sichtbarsten ist der Verlust der Einkommen derjenigen Arbeiter, die „normalerweise“ in Israel arbeiten. Ein für den Gaza-Streifen nicht unerheblicher Teil. Über 55.000 Arbeiter hatten sich vor dem Krieg in den frühen Morgenstunden auf dem Weg zum Kontrollpunkt in Erez zwischen dem Gaza-Streifen und Israel gemacht, um von dort zu ihren israelischen Arbeitgebern transportiert zu werden. Ihr täglicher durchschnittlicher Verdienst von ca. 25 Dollar (knapp 40 DM) sank seit der Ausgangssperre praktisch auf Null. Das ist ein Verlust von fast 1,5 Millionen Dollar täglich, schätzt der Ökonom Abdel Shafi. Doch auch nach der Aufhebung der Ausgangssperre tagsüber hat sich die Lage nicht normalisiert. Nach offiziellen israelischen Angaben haben in den letzten Wochen nur 10.000 Arbeiter täglich die Grenze überquert. Ein palästinensisches Forschungszentrum in Gaza spricht sogar nur von 7.000, also nur 13 Prozent der Vorkriegszeit.

Bereits Ende 1989 hatten die israelischen Behörden ein Magnetkartensystem am Kontrollpunkt zwischen Gaza und Israel eingeführt. Nur der Besitzer eines solchen Ausweises erhält die Erlaubnis, nach Israel einzureisen. Allgemeine Schätzungen sprechen von 14.000 Palästinensern, denen ein solcher kreditkartengroßer Ausweis verwehrt wird. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt, zum Beispiel nach Verhaftungen, mit denen fast alle Familien in Gaza Erfahrungen haben, oder wenn jemand seine willkürlich festgesetzte Steuer nicht bezahlt.

Eine Umfrage eines palästinensischen Forschungsinstituts in der Westbank über alle in den von Israel besetzten Gebieten ansässigen Palästinenser hat ergeben, daß 32 Prozent der Befragten seit Beginn des Golfkrieges ihren Job ganz und 34 Prozent ihren Job teilweise verloren haben. 22 Prozent bekamen nur teilweise ihr Gehalt und die Hälfte der Befragten hatte überhaupt kein Einkommen mehr. Der gewaltige Verlust an diesen Einkommen wirkt sich verheerend auf die Wirtschaft im Gaza-Streifen aus. „Die Menschen haben einfach kein Geld mehr, um etwas zu kaufen“, beschreibt die Soziologin Itimad Imhana die noch andauernde Lage. „In der Stadt haben die Leute noch Ersparnisse und können sich gerade so über Wasser halten, doch in den Flüchtlingslagern leben die Menschen von der Hand in den Mund“, sagt sie. Daß die Lage noch immer katastrophal ist, das zeigt auch der Entschluß der UN- Flüchtlingsorganisation UNWRA, Mitte März, weiterhin Zucker, Käse und Gemüsekonserven an Flüchtlingsfamilien zu verteilen. Während der Ausgangssperre hatte die Organisation an jede Familie im Gaza- Streifen 5 Kilo Zucker und 3 Kilo Milchpulver verteilen lassen. Dieses Programm war nötig geworden, nachdem sich viele Familien nur noch von Brot und Linsen ernährten. „Wir stehen da wie ein Bettler mit ausgestreckter Hand“, veranschaulicht ein palästinensischer Journalist aus Gaza die entwürdigende Situation.

Ein Viertel der Zitrusernte ist auf den Bäumen verfault

Sämtliche Wirtschaftssektoren leiden unter den Folgen der Ausgangssperre. Auch wenn einige Bauern nach der ersten Woche Ausgangssperre eine Erlaubnis erhielten, ihre Felder konnten die meisten nicht wie gewöhnlich bestellen. Besonders die zu Kriegsbeginn anstehende Zitrusernte, ein bedeutender Teil der Landwirtschaft Gazas, kam ins Stocken. Ein Viertel der Zitrusernte verfaulte einfach auf den Bäumen, schätzt ein in Gaza ansässiger Landwirtschaftsexperte. Der größte Teil dieser Ernte wird „normalerweise“ über Jordanien vermarktet. Ein Weg, der nun verschlossen blieb. Der Markt innerhalb des Gaza-Streifens kam fast völlig zum Erliegen. Marktverkäufer berichteten, daß sie nach den ersten Wochen der Ausgangssperre das Gemüse, das sie morgens auf den Markt brachten, mittags fast alles wieder mitnehmen mußten. Viele Frauen, die als einzige für einige Stunden zum Einkaufen die Häuser verlassen durften, hatten kein Geld mehr für Lebensmittel.

Die Produktion der Industrie, ohnehin ein Stiefkind Gazas, hatte nach Angaben eines Forschungsinstituts in der Westbank Produktionsverluste zwischen 93 und 95 Prozent. Die wenigen Betriebe, die dank einer Sondergenehmigung arbeiten durften, produzierten nur ein Minimum, da ihnen die Zulieferprodukte fehlten.

Der Fischfang des am südöstlichen Mittelmeer gelegenen Gaza- Streifens war bereits vor der Golfkrise eingeschränkt. Weite Gebiete sind den Fischern unzugänglich, da sie von den israelischen Behörden zu Sicherheitszonen erklärt wurden. „Sie hatten das Meer zugesperrt“, umschreibt ein Fischer die Ausgangssperre. Gegen Ende der Sperre bekamen die Fischer eine Sondergenehmigung, um für wenige Stunden und zu unpassenden Zeiten fischen zu dürfen. „Da hatte sich das Benzin nicht gelohnt, um rauszufahren, um dann kurz danach wieder mit leeren Netzen zurückkehren zu müssen“, sagt einer der Fischer.

Der Fischfang liegt brach, denn auch das Meer war als „Sicherheitszone“ abgesperrt

Zu der Zerstörung der Wirtschaft im Gaza-Streifen kommt noch ein anderer bedeutender Faktor. Eine Statistik des Arab Thought Forums in Gaza schätzt die Zahl der Palästinenser aus dem Gaza-Streifen, die Ende 1989 am Golf gearbeitet haben, auf fast 53.000. Ihre regelmäßigen Zahlungen bildeten ein wichtiges ökonomisches Rückgrat für viele Familien in Gaza. Seit dem Golfkrieg ist dieser Strom versiegt.

In einer Pressekonferenz des Koordinationskomitees der Nichtregierungsorganisationen in Jerusalem zum Besuch des US-Außenminsters wurde der Schaden der palästinensischen Wirtschaft nach einem Monat Ausgangssperre in der Westbank und im Gaza-Streifen auf 150 bis 200 Millionen Dollar geschätzt. Dies entspricht 10 Prozent des Nationaleinkommens in den besetzten Gebieten. Und die langfristigen ökonomischen Folgen der von Israel verfolgten Politik der Ausgangssperren sind noch nicht absehbar.

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