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Nordatlantische Allianz — quo vadis?

Seit einem halben Jahr ist die Nato auf der Suche nach einer neuen gemeinsamen Strategie/ Welche konkreten Aufgaben?  ■ Von Andreas Zumach

Dem westlichen Kriegerbündnis fehlt eine gemeinsame Strategie — bereits seit dem 3.Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der DDR zur BRD. Damals hatte Nato-Oberbefehlshaber General Galvin auf Bonner Wunsch das geheimste Dokument des Bündnisses außer Kraft gesetzt — den „General Defense Plan“, die Aufmarschpläne der Nato für den Fall eines östlichen Überraschungsangriffes. Seitdem gibt es keine Grundlage mehr für die 23 Jahre gültige Nato-Doktrin der „flexiblen Antwort“. Für „Vorneverteidigung“, „atomare Abschreckung“ und die „vorbedachte Eskalation“ vom Einsatz konventioneller Streitkräfte über atomare Gefechtsfeldwaffen bis hin zu den Interkontinentalraketen der Vereinigten Staaten existieren keine verbindlichen Allianzpläne mehr.

Die Außerkraftsetzung dieser heiligen Kühe geschah in aller Stille und wurde öffentlich kaum zur Kenntnis genommen. Das allein zeigt den enormen Bedeutungsverlust der westlichen Militärallianz angesichts des Zerfalls der Warschauer Vertragsorganisation und der politischen Umwälzungen in Europa. Ein Bedeutungsverlust, den die meisten Bündnismitglieder sowie — nicht zuletzt aus Sorge um den eigenen Arbeitsplatz — die Beschäftigten in der Brüsseler Nato-Zentrale nach wie vor leugnen. Krampfhaft wird versucht, dem Bündnis eine neue Aufgabe zuzuschreiben und ihm eine neue gemeinsame Strategie zu verpassen. Seit zwei Jahren beschwört man auf den Nato-Tagungen die „politische Rolle“ der Allianz. Bis heute existiert kein Dokument, in dem diese „politische Rolle“ einmal genauer definiert oder konkrete Aufgaben benannt wurden — Aufgaben, die nicht bereits heute von der EG und anderen Institutionen wie der KSZE wahrgenommen werden oder in Zukunft wahrgenommen werden sollen.

Beim Londoner Nato-Gipfel im Juli 1990 erteilten die 16 Regierungschefs den Auftrag, bis zum Frühjahr dieses Jahres eine neue Strategie zu formulieren. Die mit dieser Aufgabe betraute „Sondergruppe“ in der Brüsseler Zentrale hat jedoch bis heute kein schlüssiges neues Konzept entwickeln können. Die meisten der ins Auge gefaßten Änderungen sind kosmetischer Natur. So wird zwar offiziell behauptet, die Nato habe keine Feindbilder und Bedrohungsszenarien mehr. Und tatsächlich gilt auch nicht mehr ein sowjetischer Angriff auf Westeuropa als eventuelles Sicherheitsrisiko. Dennoch birgt aber das „nach wie vor erhebliche Militärpotential der UdSSR“ große Gefahren. Dazu kommen die „Instabilitäten“ in (Süd)osteuropa. Ob denn Nato- Truppen, gar deutsche Soldaten im Falle eines Bürgerkrieges in Jugoslawien eingreifen sollen? Auf die Beschreibung konkreter Szenarien kann/will sich kein Nato-Verantwortlicher einlassen. Auch die „Gefährdungen“ aus dem Süden werden nur pauschal als solche benannt.

Die Golfkrise war für die auf dem Höhepunkt der eigenen Legitimitätskrise befindlichen westlichen Militärstrategen zwar einerseits ein Geschenk des Himmels, weil sich mit ihr einem breiten Publikum die angebliche Notwendigkeit weiterer militärischer Anstrengungen demonstrieren ließ. Andererseits machten gerade im Golfkrieg die USA erfolgreich vor, wie sich militärischer und finanzieller Beistand auch bilateral und unter Umgehung der Nato organisieren läßt.

Militärische Planung muß heute darauf abzielen, äußerste Flexibilität gegenüber in der Zukunft entstehenden Riskiken höchst unterschiedlicher Art zu gewährleisten — so lautet der Kernsatz der Nato-Sinnsucher, mit dem sich alles und jedes begründen läßt. Für die Truppen und ihre Bewaffnung heißt die Devise: schneller, mobiler und multinationaler. Angesichts nicht mehr so stark steigender Militärhaushalte müssen Streitkräftepersonal und Infrastrukturprogramme der Nato in den nächsten Jahren erheblich reduziert und zusammengestrichen werden. Genaue, endgültige Zahlen liegen bislang ebenso wenig vor, wie detaillierte Programme für künftige Waffenbeschaffungen. Klar ist lediglich: Es bleibt bei der atomaren Bewaffnung der Allianz. Damit bleiben auch die alten bündnisinternen Widersprüche.

Als Bedingung für den weiteren Schutz durch die USA soll es bei der Stationierung von Atomwaffen in Westeuropa und ausdrücklich auch in der Bundesrepublik bleiben — wenn nicht von bodengestützten Granaten und Kurzstreckenraketen, so künftig doch von flugzeuggestützten atomaren Abstandswaffen (TASM) mit Reichweiten bis in die Sowjetunion oder nach Nordafrika. Das machte Oberbefehlshaber Galvin im März vor dem US-Senat unmißverständlich klar. Darauf bestehen auch die Briten. Bundesdeutsche Nato- und Regierungsvertreter versuchen dies derzeit noch herunterzuspielen mit der aus der Kurzstreckendebatte bekannten Ausrede, eine endgültige Entscheidung über die Stationierung der TASM sei bislang noch nicht gefallen. Ende Mai, wenn die nukleare Planungsguppe der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel die neue Atomwaffenstruktur der Allianz zu billigen hat, wird Bonn Farbe bekennen müssen.

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