: Sowjetische Kumpel streiken weiter
■ Präsident Gorbatschow akzeptiert Lohnerhöhung für Bergarbeiter und lehnt ihre politischen Forderungen ab/ Streikbewegung weitet sich aus/ Massenproteste gegen Preisanhebungen in Minsk
Moskau (afp) — Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat Mittwoch abend die politischen Forderungen der streikenden Bergarbeiter zurückgewiesen, sich aber mit den von Ministerpräsident Walentin Pawlow ausgehandelten Lohnerhöhungen einverstanden erklärt. Die Kumpel hatten unter anderem den Rücktritt Gorbatschows und der sowjetischen Regierung verlangt.
Nach der am Mittwoch erzielten Einigung sollen die Löhne der Kumpel bis zum Ende des Jahres in vierteljährlichen Schritten verdoppelt, ferner die Rentenfrage neu geregelt werden. Abordnungen der Streikkomitees hatten am Dienstag und Mittwoch im Kreml mit Pawlow und anderen Kabinettsmitgliedern Verhandlungen über ihre Forderungen geführt. Der sowjetische Regierungschef versicherte, über die politischen Anliegen der Bergleute sei nicht verhandelt worden, da dies nicht in der Kompetenz der Regierung liege.
Gorbatschow hatte sich nach Abschluß der Gespräche mit den Vertretern der Streikkomitees getroffen; bei dieser Gelegenheit warnte er die Streikenden, sie sollten sich nicht von Leuten benutzen lassen, die den Rücktritt des Präsidenten erreichen wollten. Er sei „auf legalem und verfassungsmäßigem Wege“ vom sowjetischen Volksdeputiertenkongreß im März 1990 gewählt worden und habe nicht die Absicht, „verfassungswidrig zu handeln“.
Über eine Beendigung des Ausstands muß allerdings noch in jeder einzelnen Belegschaft entschieden werden. Durch eine Fortsetzung des Streiks in den größten sowjetischen Kohlerevieren haben die Bergarbeiter eine Ablehnung des Moskauer Verhandlungsergebnisses bereits deutlich signalisiert.
Indes weitet sich die Streikbewegung auch auf solche Industriezweige aus, die vom Ausstand im Bergbau betroffen sind. In Warnstreiks haben die Arbeiter zahlreicher Betriebe die wirtschaftlichen und politischen Forderungen der Kumpel aufgegriffen.
So wurden im weißrussischen Minsk am Donnerstag morgen fast alle Betriebe bestreikt. Etwa 10.000 Demonstranten kamen auf dem Lenin-Platz im Stadtzentrum zusammen und forderten die weißrussische Regierung einerseits zu einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Löhne auf, verlangten aber andererseits auch den Rücktritt der Regierung und Gorbatschows. Hintergrund der Proteste sind die bis zu 300prozentigen Preiserhöhungen, die zum 2. April in Kraft getreten sind, und die weiterhin leeren Auslagen in den Geschäften.
Bislang hat das sowjetische Fernsehen die den Bergarbeitern angebotene Lohnerhöhung verschwiegen, die am Donnerstag vom russischen Parlamentspräsidenten Boris Jelzin vor dem russischen Volksdeputiertenkongreß als „unzureichend“ kritisiert worden ist.
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