: Flucht durch Frost und Schnee fordert erste Opfer
■ Türkei erhöht militärische Präsenz entlang der Grenze/ Irak erklärt Aufstand im Norden für beendet/ Auch Suleimaniya offenbar von Regimetruppen erobert/ Irak verstößt erneut gegen das Völkerrecht/ Bonn stellt humanitäre Hilfe in Aussicht
Istanbul/ Bagdad/ Genf/ Berlin (afp/dpa/taz) — Die Massenflucht der Kurden in Richtung Grenze hält ungeachtet der Entscheidung der türkischen Regierung, keine Flüchtlinge ins Land zu lassen, offenbar unvermindert an. Der beschwerliche Weg über die Berge bei Schnee und Frost hat offenbar schon die ersten Opfer gefordert. Nach Angaben irakischer Oppositionsgruppen setzen die Regimetruppen auch Phosphorbomben gegen die Bevölkerung und die Flüchtlinge ein.
Diejenigen, die ihrer Heimat aus Angst vor den Truppen Saddam Husseins und einem neuerlichen Giftgaseinsatz den Rücken kehren, sind nicht nur die kurdischen Kämpfer und ihre Familien, sondern stammen aus allen Gesellschaftsschichten. Geschäftsleute im Anzug und mit Auto zählen ebenso dazu wie ganze Familien, die nur ihre Kleider am Leibe tragen. Journalisten aus dem Grenzgebiet berichteten von weinenden Kindern, die barfuß im Schnee stehen, einer Frau, die am Rande des Weges ihr Kind zur Welt brachte, von Familien, die seit zwei Tagen zu Fuß unterwegs waren und nur von Tee und Zucker lebten. An der Grenze zum Iran stauten sich die Flüchtlinge auf einer Strecke von achtzig Kilometern.
Nach unbestätigten Berichten, die bei einer Zeitungsredaktion in Istanbul eingingen, sollen 38 Menschen, darunter 24 Kinder unter sechs Jahren, in der Nacht zum Mittwoch im Gebirge erfroren sein. Vier Personen seien von türkischen Grenzpatrouillen erschossen worden, als sie versuchten, heimlich die Grenz zu überqueren. Zehn weitere seien in einem Minenfeld ums Leben gekommen. Ein französischer Journalist berichtete, er haben in den letzten zwei Tagen vier erfrorene Kinder gesehen.
Wie eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Medico International, Lissy Schmidt, aus Diyarbakir in Türkisch-Kurdistan berichtet, warten die Flüchtlinge jenseits der Grenze gegenüber den Orten Uludere, Cukurca und Semdinli. An allen drei Orten hätten Grenzsoldaten in die Luft geschossen, als sich die Flüchtlinge den Zugang zur Türkei erzwingen wollten. Diejenigen, die bis jetzt aufgenommen wurden, sind so gut wie ausschließlich Turkmenen. Die militärische Präsenz entlang der Grenze wurde deutlich verstärkt und Journalisten der Zugang zur Region untersagt.
Ungeachtet der bislang abweisenden Haltung der Regierung in Ankara bereiten sich türkische Kurden in mehreren Städten bereits auf die Ankunft der Flüchtlinge vor, so beispielsweise in Hakkari und Diyarbakir. Dort beschloß gestern eine Vereinigung aller Parteien, Berufsverbände, Menschenrechtsvereinen, Gewerkschaften und Vertreter der Stadtverwaltung, mit einer Hilfskampagne zu beginnen, eine Demonstration zu organisieren und Protesttelegramme an US-Präsident Bush zu schicken.
Die irakische Regierung hat unterdessen den Aufstand in Kurdistan für beendet erklärt. All diejenigen, die ihre Wohnungen verlassen haben, wurden aufgefordert, wieder zurückzukehren „und in Frieden zu leben“. Es würden nur diejenigen zur Verantwortung gezogen, die sich „des Mordes, der Vergewaltigung und des Diebstahls schuldig gemacht haben“. Nach Angaben der irakischen Führung wurde am Mittwoch die Stadt Suleimaniya zurückerobert, die letzte Hochburg der Aufständischen. Doch in verschiedenen Teilen Kurdistans wie auch im Süden des Landes kommt es immer noch zu einzelnen Gefechten.
Die Berichte über die Lage in Kurdistan haben jetzt, anders als im Falle der Niederschlagung des Aufstands im Südirak, zu internationalen Reaktionen geführt. Zwar hat Bagdad, wie beispielsweise auch Washington und London, das zweite Zusatzprotokoll zum Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer in Bürgerkriegskonflikten weder unterschrieben noch ratifiziert. Doch das Genfer Abkommen vom 12. August 1949 enthält in den vier Konventionen einen gleichlautenden Artikel, der die Bevölkerung im Bürgerkrieg vor Gewalt schützen soll. Auch der Irak hat sich dieser Bestimmung verpfichtet. Der in diesem Zusammenhang entscheidende Artikel drei der Konventionen fordert dazu auf, unbeteiligte Zivilpersonen, außer Gefecht gesetzte Soldaten sowie Gefangene in internen Konflikten unter allen Umständen menschlich zu behandeln.
Humanitäre Organisationen können den Konfliktparteien in einem Bürgerkrieg ihre Hilfe anbieten. „Unsere Rolle ist es aber nicht, die eine oder die andere Seite öffentlich zu verurteilen“, meinte der Rechtsfachmann des Internationalen Roten Kreuzes in Genf, Jean-Philippe Lavoyer. Die Intensität der Kämpfe zwischen irakischen Streitkräften und den kurdischen Soldaten bedeute aber in jedem Falle, daß der Artikel drei der Konventionen anwendbar sei — die Lage im Norden des Irak also nach humanitärer Rücksicht ruft.
Unter den westlichen Staaten hat sich Frankreich am Klarsten für eine Verurteilung des irakischen Vorgehens gegenüber den Kurden ausgesprochen. Außenminister Roland Dumas sprach von einer „Pflicht der Einmischung“. In Washington teilte das Außenministerium mit, daß die USA nach der Verabschiedung der Waffenstillstandsresolutio im Sicherheitsrat umgehend über die humanitäre Lage im Irak sprechen wolle. (Siehe Artikel auf dieser Seite.) Der Abteilungsleiter des Ministeriums für den Nahen Osten, John Kelly, traf erstmals zu einem rund einstündigen Gespräch mit sechs Vertretern oppositioneller Sunniten und Schiiten zusammen. Einzelheiten wurden nicht bekannt.
Die Bundesregierung in Bonn protestierte gegenüber dem irakischen Geschäftsträger nachdrücklich gegen die Verfolgung der Kurden. Wie der Beauftragte für Nah- und Mittelostpolitik, Herwig Bartels, erklärte, fordert Bonn von Bagdad die Beachtung der Menschenrechte und die Realisierung der autonomen Rechte für die Kurden, wie sie im irakischen Gesetz vom 11. März 1974 gewährt wurden.
Politiker aller Parteien sprachen sich dafür aus, alles dafür zu tun, um einen drohenden Völkermord im Irak zu verhindern. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sind gezielte humanitäre Lieferungen zur Linderung der Not der Flüchtlinge in Vorbereitung.
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