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Nichteinmischung unter Beschuß

■ Während die türkische Regierung für die Öffnung ihrer Grenzen für kurdische Flüchtlinge internationale Unterstützung einforderte, liefen erste Hilfsaktionen zur Linderung der Not an...

Nichteinmischung unter Beschuß Während die türkische Regierung für die Öffnung ihrer Grenzen für kurdische Flüchtlinge internationale Unterstützung einforderte, liefen erste Hilfsaktionen zur Linderung der Not an. Die „Nichteinmischungspolitik“ der UNO wird zunehmend kritisiert.

Auch die internationalen humanitären Organisationen hatten offensichtlich bis zuletzt nicht damit gerechnet, daß die USA und ihre Golfkriegs-Alliierten das barbarische Vorgehen Saddam Husseins gegen die innenpolitische Opposition zulassen würden. „Wir waren auf die derzeitige Situation im Irak nicht vorbereitet. Sie war nicht voraussehbar.“ Mit diesen Worten räumte der Direktor des UNO-Katastrophenhilfswerks UNDRO, der Österreicher Ferdinand Mayrhofer, gestern in Genf wenigstens ein, was viele Beobachter seit Tagen mit wachsendem Unverständnis registrieren, ja als schweres Versagen empfinden: die bisherige Untätigkeit der internationalen humanitären Organisationen angesichts der Not und des Elends Hunderttausender Menschen, die vor der irakischen Armee auf der Flucht sind. Man könne nicht handeln, bevor man sich nicht ein eigenes Bild von der Lage in den kurdischen Provinzen Iraks und an deren Grenzen zur Türkei und dem Iran gemacht habe, hieß es bis einschließlich Donnerstag übereinstimmend sowohl beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, (IKRK) wie beim UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR). Die von vielen vor Ort arbeitenden Journalisten gemeldeten Flüchtlingszahlen könne man sich nicht einfach zu eigen machen. Zur Sammlung eigener Erkenntnisse brach gestern dann eine gemeinsame Delegation von UNDRO, UNHCR und dem Kinderhilfswerk UNICEF in die Bürgerkriegsregion auf.

Ebenfalls gestern richtete die UNDRO einen Spendenappell an die internationale Staatengemeinschaft. Mit dem Geld sollen in der Türkei und im Iran Lager für jeweils 100.000 Flüchtlinge eingerichtet werden. Ob dies angesichts der bislang gemeldeten Größenordnungen des Flüchtlingsproblems und der Zahl von über drei Millionen irakischer Kurden ausreicht, wußte auch UNDRO-Chef Mayrhofer nicht zu beantworten. Allerdings bezifferte er die Anzahl der bis gestern an der türkischen Grenze angekommenen Flüchtlinge auf lediglich 30.000 bis 40.000 — eine Zahl, die deutlich unter den 200.000 bis 220.000 liegt, von denen bereits seit Tagen in Korrespondentenberichten und Erklärungen der Regierung in Ankara die Rede ist. Bereits in der Türkei sind nach Angaben der UNDRO über 10.000 Iraker. Das UNHCR nannte jedoch nur die Zahl von 7.500. Auseinander gingen jedoch auch die Zahlenangaben verschiedener türkischer Stellen. Während Präsident Özal die Zahl der in die Türkei geflüchteten Iraker am Donnerstag abend auf 100.000 bezifferte, sprach Provinzgouverneur Kozakcioglu gestern in Diyarbakir von 264.000. Nach seinen Angaben seien weitere 150.000 Flüchtlinge aus dem Nordirak auf dem Weg in die Türkei. Von den in Genf ansässigen humanitären Organisationen wurde — allerdings ohne Belege — der Verdacht geäußert, die Türkei treibe die Flüchtlingszahlen hoch, um finanzielle Zuwendungen anderer Staaten zu erhalten. Die Regierung in Ankara bestätigte inzwischen Angaben der UNDRO in Genf, wonach die Grenze zu Irak nicht geschlossen ist und irakische Flüchtlinge „kontrolliert in die Türkei gelassen“ würden. Nach Auskunft der UNDRO dürften zur Zeit täglich 1.000 Kurden ins Nachbarland.

Sehr viele Schiiten unter den Flüchtlingen

Offen bleibt zunächst, ob die beiden von der UNDRO geplanten Lager als vorläufige Dauerbleibe oder als Transitlager auf dem Weg in andere Länder fungieren sollen. In den Iran geflüchtet sind nach — ausnahmsweise übereinstimmenden — Angaben von UNDRO und UNHCR bisher rund 70.000 Iraker. 20.000 von ihnen kamen in den letzten Tagen. Die 70.000 sind mehrheitlich keine Kurden, sondern Schiiten, deren Aufstand im Süden Iraks die Armee Saddam Husseins bereits letzte Woche niedergeschlagen hatte. Rund 30.000 dieser Flüchtlinge werden derzeit im Süden des Landes gemeinsam von der iranischen Roten-Halbmond-Organisation und dem IKRK betreut. Die Errichtung eines weiteren Lagers für 12.000 bis 15.000 Menschen ist geplant. Auch im Norden Irans sollen demnächst zwei Flüchtlingslager eingerichtet werden. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob diese Kapazitäten auch nur annähernd ausreichen werden. Iranische Behörden berichteten gestern von 1,5 Millionen Kurden, die sich in Trecks auf die Grenze zu bewegten. Rund 40.000, die meisten halb verhungert und großenteils verletzt, hätten die Grenze bereits überquert. Viele seien nach Angaben der Flüchtenden unterwegs gestorben.

Falls sich die Meldungen über diese hohen Zahlen bestätigen sollten, dürften auch die Hilfsmaterialien sehr schnell knapp werden, die bislang in die Nachbarstaaten des Irak geschafft wurden; in Erwartung eines größeren Flüchtlingsstromes schon während des Golfkrieges hatte das IKRK bis Mitte März 40.000 Decken, 4.000 Zelte und 12.000 Schlafsäcke in den Iran und die Türkei geschafft.

Mit ihren Hilfsaktionen erreichen dürften die internationalen humanitären Orgnisationen vor allem Menschen, denen die Flucht über die Grenzen in den Iran oder die Türkei gelungen ist. Die Organisationen rechnen nicht damit, daß ihnen das irakische Regime allzuviel Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes gewähren wird, vor allem nicht bei der Versorgung der oppositionellen Kurden. Deshalb könnten möglicherweise auch in den nächsten Tagen die Grausamkeiten gegen die Kurden ungehindert und ohne ausreichende Versorgung der Opfer weitergehen — „es sei denn“, so UNDRO-Direktor Mayrhofer, „der UNO-Sicherheitsrat faßt einen Beschluß, der zu einer grundsätzlichen Veränderung der derzeitigen politischen und militärischen Lage führt“.

Der UNO-Sicherheitsrat nahm gestern abend in New York erneut seine Beratungen über einen Resolutionsentwurf Frankreichs auf, in dem „die Repression der irakischen Zivilbevölkerung in vielen Teilen des Irak, einschließlich der Gebiete, die jüngst von Kurden besiedelt wurden“, verurteilt wird. Der Irak wird aufgefordert, diese Unterdrückungsmaßnahmen zu beenden und den internationalen Hilfsorganisationen Zugang zu den Hilfsbedürftigen zu gewähren. UNO-Kreise in Genf und New York rechneten gestern noch mit erheblichen Veränderungen des Entwurfs. Eine Reihe von Staaten, darunter die über Vetorecht verfügenden ständigen Mitglieder China und die Sowjetunion, aber auch Indien und andere „Dritte- Welt“-Staaten, hatten massive Einwände gegen eine Reihe von Formulierungen des Entwurfs. Diese Staaten, in denen es in jüngster Zeit ebenfalls zu schweren inneren Unruhen gekommen war, haben sich in der Vergangenheit immer strikt gegen eine Einmischung des Sicherheitsrates in die inneren Angelegenheiten eines Staates ausgesprochen. Sie fürchten, daß mit einer Zustimmung des Sicherheitsrates zu einem Eingreifen im Irak ein Präzedenzfall geschaffen wird. Zwar verbietet Artikel 2, Absatz 7 der UNO-Charta eine Einmischung der Weltorganisation in innere Angelegenheiten eines Staates. Allerdings gestattet Artikel 39 ein Eingreifen, falls das Vorgehen einer Regierung gegen ihre Bevölkerung „in ihren Konsequenzen den internationalen Frieden und die Sicherheit in der Region gefährdet“. Dieses, so argumentiert auch der französische Resolutionsentwurf, sei durch den Flüchtlingsstrom aus dem Irak in die Nachbarländer der Fall (siehe Interview). Grundsätzlich gegen eine neue Resolution des Rates zur Lage im Irak wandten sich unter den 15 Mitgliedern des Sicherheitsrates lediglich Jemen und Kuba. Andreas Zumach

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