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Aus dem Berufsleben zurückgepfiffen

■ Für die Frauen in Ostdeutschland verschlechtert sich die Situation laufend/ Brandenburgische Sozialministerin Hildebrandt stellt „depressive Stimmung“ fest/ Vogel: Kohl soll sich entschuldigen

Bonn (taz) — Die brandenburgische Arbeitsministerin Regine Hildebrandt, SPD, schilderte gestern eindringlich die katastrophale Lage für Frauen am Arbeitsmarkt im Osten: „Durch den Einigungsprozeß, der ja eher ein Überstülpen war, werden sie aus dem Berufsleben zurückgepfiffen.“ Mit 53% seien die Frauen von der Arbeitslosigkeit überproportional betroffen. An Arbeitsbeschaffungs- und Fortbildungsmaßnahmen würden sie jedoch weniger beteiligt als die Männer. In der ehemaligen DDR, so Regine Hildebrand, „waren über 90 Prozent der Frauen berufstätig“. Fast alle wollten es weiterhin bleiben, „aber sie können es nicht“. Die Frauenerwerbsquote sei schon unter 80 Prozent gesunken.

Die Ministerin berichtet: „Viele Frauen, die ohne Job auf Arbeitslosen- oder Sozialhilfe angewiesen sind, stehen jetzt vor großen finanziellen Problemen.“ Der Grund: Bis das Geld auf das Konto überwiesen oder von der Post ausgetragen wird, dauere es in den neuen Bundesländern manchmal Monate. „Wenn jetzt auch noch 90% der Leute zu Wohngeldempfängern werden, ist das Chaos komplett“, mahnte die SPD- Politikerin.

Besonders schlecht, so Regine Hildebrandt, gehe es den älteren Frauen. Erst ab 57 Jahren — nicht schon wie früher mit 55 — bekommen sie das Altersübergangsgeld. Viele von ihnen hätten jedoch vorher nur 500 bis 700 Mark im Monat verdient. Sie müßten jetzt mit 65% dieses Lohnes auskommen.

Auch die in der Landwirtschaft tätigen Frauen seien übel dran. In manchen Regionen sind über die Hälfte von ihnen inzwischen arbeitslos und haben „so gut wie keine Möglichkeiten“, wieder einen Job zu finden. Die Misere werde noch dadurch verstärkt, daß an vielen Orten die Kinderbetreuungsstätten dicht machten. Manche Frau müsse deshalb ihren Job aufgeben und tauche natürlich in keiner Arbeitslosenstatistik mehr auf. Dort, wo es noch genügend Kindergartenplätze gebe, könnten sich viele Frauen die hohen Kosten — manchmal bis zu 150 Mark pro Kind — nicht mehr leisten. Insgesamt, so Regine Hildebrandt, herrsche unter den Frauen in der ehemaligen DDR eine „depressive Stimmung“. Kaum jemand wisse über seine Ansprüche Bescheid.

Der SPD-Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel schlug dem Bundeskanzler gestern in einem Brief vor: „Angesichts des Zusammenbruchs in den neuen Ländern“ sollten sich „alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte“ an einen runden Tisch setzen. Noch in diesem Jahr, so Vogel, könne die Arbeitslosenquote im Osten auf 50 Prozent ansteigen. Deshalb müsse die Regierung jetzt Beschäftigungsgesellschaften gründen. Zur Verstärkung der Verwaltungen im Osten sollten Beamte aus dem Westen zwangsversetzt werden. Vogel forderte den Bundeskanzler auf, sich bei seinem bevorstehenden Besuch in Erfurt bei den Menschen in Ostdeutschland für seine uneingelösten Wahlversprechen zu entschuldigen. Bundeskanzler Kohl hat noch nicht auf Vogels Brief geantwortet. Tina Stadlmayer

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