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Die unglaubliche Geschichte des Mr. Lothar C.

■ Was passieren kann, »wenn Sie täglich zuverlässig informiert werden wollen«

Vor wenigen Tagen wurden wir von einem Erlebnis heimgesucht, dessen Wirkung uns immer noch schockartig in den Knochen sitzt. In den Knochen? Wenn sich des Rätsels Lösung tatsächlich dort aufhielte... Es wäre nicht auszudenken!

Am Anfang schien es ein Tag wie jeder andere werden zu wollen. Die Sonne blinzelte auf unser Kopfkissen, und da sie allein uns nicht über die alltägliche Grübelei, warum überhaupt aufgestanden werden muß, hinweghelfen konnte, versuchten wir es wieder mit dem absolut zuverlässigen Trick, jenem einzig überzeugenden Argument gegen das Liegenbleiben: Wir dachten an den 'Tagesspiegel‘. Ja, wir dachten an jenes herrliche Druckwerk, das unbelehrbare Menschen immer noch »Tagesspitzel« nennen, während wir doch seit Jahren dazu neigen, es mit dem zärtlichen Beiwort »Tante« zu versehen. Ein kleiner Gedanke an die Tante, insbesondere an ihr Hinterteil, wenn dieser Scherz noch erlaubt ist, und wir sind glücklich und hellwach. Jeden Tag berichtete uns dieses Hinterteil »Neuss aus aller Welt«. Die schönsten Greueltaten, lustigsten Morde, wer einen Sechser im Lotto, aber vergessen hatte, seinen Schein abzugeben oder wo es wieder gelungen war, ein zweiköpfiges Kind auf diese Welt zu befördern: Tante 'Tagesspiegel‘ erzählte uns alles und nur zu dem Zweck, uns über unser eigenes Elend zu trösten, unsere Neigung zur Schadensfreude täglich zu zu päppeln.

Auch neulich schnürten wir also in Richtung Zeitungshändlerin, griffen blind in den Ständer, ließen das Markstück auf den Tisch rollen und waren fast schon wieder zu Hause. Aber dann, als wir am Frühstückstisch unseren 'Tagesspiegel‘ aufklappten, fuhr uns der Schock in die Glieder, das Blut kochte uns in die Ohren und aus dem unsäglichen Gelärme unserer inneren Stimmen hörten wir immer nur diesen einen Satz heraus: »The incredible shrinking man«: Mit tropfenden Händen griffen, blätterten, wendeten wir die Tante, unser Befund blieb der gleiche. Aus der furchtbaren Ahnung wurde entsetzliche Gewißheit. Die unglaubliche Geschichte des Mr. C., die der Hollywoodfilmer Jack Arnold im Jahre 1957 auf die Leinwand gebannt hatte, sie ist Wirklichkeit geworden an uns. Wir sind die Opfer.

Auch für jenen Mr. C. begann alles ganz harmlos. Eines Tages schienen ihm alle Gegenstände und auch seine Gattin ein wenig größer als noch am Vortage. Wenige Tage später weiß er, woran das liegt. Er schrumpft. Er wird ganz einfach unerklärbar, aber auch unaufhaltsam, immer kleiner. Und jetzt soll uns dieses Schicksal ereilen? Zitternd holten wir ein älteres Exemplar des 'Tagesspiegel‘ vom Stapel und verglichen es mit dem druckfrischen. Kein Zweifel: Das neue war ein gutes Stück größer als das alte. Wir sind also geschrumpft. Wir beginnen incredible zu shrinken. Wo sucht der Mensch Halt in solcher Stunde? Wo Erklärung und Trost? Beim 'Tagesspiegel‘, wo sonst. Aber was müssen wir da lesen auf der ersten Seite der Sonderbeilage? »An einem Ort mit weit geöffneten Horizonten« verkündet die Schlagzeile. Um Gottes Willen, was bedeutet das? Auch die Unterzeile klingt dunkel: »Die Umstellung des 'Tagesspiegel‘ trifft auf ein Berlin in radikal veränderter Lage«. Man entführt uns samt unserer Heimatstadt. Aber wo liegt jener Ort mit den »weit geöffneten Horizonten?« Und wer ist jener Hermann Rudolph, der sich für diese Zeilen verantwortlich zeichnet? Wir kennen den Mann nicht. Im Incredible Shrinking Man sind Außerirdische am Werk. Ist Hermann Rudolph ein Außerirdischer? Wenn man die Buchstaben seines Namens ein wenig umstellt, erhält man die Losung: »Plane nur Mord H H«. Dieses gräßliche Lachen am Ende. Fiebernd blättern wir weiter. Die Überschriften der Artikel lassen überhaupt keinen Zweifel. Außerirdische haben zur Feder gegriffen. Tante 'Tagesspiegel‘ ist in ihrer Hand. »Die schwierige Aufgabe, Berliner wieder zu lernen« steht dort, und »Die Stadt muß ihre Mitte wiedergewinnen« und »Über den notwendigen Umbau eines Stadtgefühls«. Auf Seite 21 meldet sich Lothar C. Poll zu Wort. (Na bitte, der Mann gehört zu den Verschwörern. Lothar C. Und wie ist der deutsche Titel des Films? Die unglaubliche Geschichte des Mr. C. Allmählich kommt doch Licht in die Sache.)

»Wir alle wissen, daß Berlin ein schwieriger Boden ist«, schreibt Lothar C.. Na gut, das soll uns beruhigen. »Aber es ist ebenso der Boden, in den heute der kraftvolle Samen der Zukunft gesät wird«. Wir haben nicht die Kräfte weiterzulesen. Wir müssen uns schonen. Grauenvolles wird geschehen, und wir werden es nicht verhindern können. Wir werden einfach nur immer kleiner werden. Jetzt gibt es nur noch einen Trost. Im Film ist der Incredible Shrinking Man am Ende so groß wie das Schwarze unterm Fingernagel seiner Frau. Und in diesem Moment offenbart sich das Wunder der Schöpfung, das unglaubliche Rätsel des Lebens. Vielleicht werden auch wir die Offenbarung erleben. Wir werden schrumpfen, bis wir eingehen ins Reich der Quarks, der kleinstmöglichen Teilchen. Wir werden Gnade und Erlösung erfahren. Der Horizont wird sich öffnen in radikal veränderter Lage. Wir sind der kraftvolle Samen der Zukunft. Hörst du uns, Mordplaner Hermann, rasender Rudolph? Was immer du mit uns vorhast: Wir erwarten dich, wir sind bereit. Doja Hacker

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