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Recherchen im Schlafbüro

Ronald Haymans sechste Biographie: „Proust“  ■ Von Ina Hartwig

Wenn er nicht gerade hustete, schrieb er, im Bett liegend, vor Kälte klappernd, in mehrere Pullover und Decken gehüllt. Marcel Proust vertrug die Wärme der Zentralheizung nicht, weshalb sie aus und sein Schlafzimmer kalt blieb. Glücklicherweise hatte Haushälterin Céleste ein offenes Ohr für seine Hypochondrien; sie brachte Asthmazigaretten, Ohrstöpsel, Wärmflaschen (jeweils zwei), Bier vom „Ritz“, morgens zum Einschlafen Veronal und zum Aufwachen am Nachmittag Koffein und Adrenalin. Und weil Céleste zur Eifersucht neigte, erfüllte sie ihre schwierigste Aufgabe zuverlässig. Sie hielt die Leute von Monsieur fern — auch Ärzte.

Seit 1918 hatte sich der Exzentriker mit dem traurigen Blick fast vollkommen vom Pariser Gesellschaftsleben, das ihm einmal soviel Spaß gemacht hatte, zurückgezogen. Schwer asthmakrank korrespondierte er jetzt frenetisch, und er schrieb seinen Lebensroman A la recherche du temps perdu weiter, dessen erster Teil (Du côté de chez Swann, 1913) schon veröffentlicht war und der ihm endlich den Ruf einbrachte, um den er solange gekämpft hatte: ein seriöser Schriftsteller zu sein.

Alle Symptome, die Proust akribisch mitgeteilt hatte, solange seine Mutter noch lebte, ignorierte er nun rücksichtslos. Gegen Fieber und Bronchitis schrieb er an, gehetzt, immer im Bett und ungewaschen. Wahrscheinlich, so sehen es die Herausgeber der Recherche heute, plante er einen weiteren (vierten) Band Sodom und Gomorrha. Aber es gelang Proust nicht, sein Werk in seinem Sinn abzuschließen. Am 18.November 1922, während der Korrekturarbeit an dem Romanteil Albertine disparue (dem dritten Band von Sodom und Gomorrha) starb er, 51jährig, an einem Lungenabszeß.

Als letztes Jahr in London Proust — A Biography erschien, hatte Ronald Hayman schon fünf Biographien (Sartre, Kafka, Brecht, Sade, Nietzsche) veröffentlicht, und mit dieser sechsten hoffte er wohl, die seit 30 Jahren — wegen unerbittlicher Ausführlichkeit — konkurrenzlose Proust-Biographie seines Landsmanns George D. Painter abzulösen. Painters Marcel Proust ist ein an lustigen Anekdoten reiches, dem Geniekult ergebenes Konglomerat aus Lobpreisung und Nachdichtung von Leben und Werk, wobei das eine mit dem anderen schamlos zur Deckung gebracht wird. Hayman hat recht, dem etwas entgegenhalten zu wollen.

Es gibt auch einen unmittelbaren Anlaß, jetzt eine neue Proust-Biographie vorzulegen: die in Frankreich seit kurzem erst veränderte Editionslage. Zwischen 1987 und 1989 hatte der Pariser Gallimard- Verlag die bisher gültige dreibändige Pléiade-Ausgabe der Proustschen Recherche durch eine neue vierbändige ersetzt. Im Vergleich mit der ersten Ausgabe (von 1954) zeigt die zweite, wie sich das Verständnis des Romans geändert hat. Die (wegen Prousts Krakelschrift und den chaotischen Zuständen in seinem Schlafbüro) mühsame Aufarbeitung von Manuskripten, Notizheften und Briefen, die in den letzten Jahrzehnten geleistet wurde (die Korrespondenz zwischen Proust und seinem Verleger Gaston Gallimard ist erst 1989 erschienen), aber auch eine in Frankreich von der „Nouvelle Critique“ (Barthes, Deleuze, Genette) seit den siebziger Jahren geführte Diskussion um Themen wie Autobiographie, Text und Schrift haben das Werkverständnis, wie es in der neuen Ausgabe der Recherche dokumentiert ist, entscheidend beeinflußt. Während die Herausgeber der alten Ausgabe, Pierre Clarac und André Ferre, noch „verbessernd“ in die Manuskripte eingriffen (Proust hatte seine eigenen Kommaregeln), bemüht sich der neue Herausgeber Jean-Yves Tadie mit seinen Mitarbeitern, den Romantext in authentischer Form zu präsentieren, das heißt in allen bis jetzt bekannten Varianten, einschließlich orthographischer Fehler und inhaltlicher Ungereimtheiten. Jetzt wird der Roman unter dem Aspekt der Werkgenese gelesen. Und das ist auch ein Eingeständnis: Der seit 60 Jahren als abgeschlossen und vollständig geltende Roman hat vorläufigen Charakter.

Der Kommentarteil der neuen Pleiade-Ausgabe wird ein wichtigeres Ereignis im gigantischen Proust-Literaturbetrieb bleiben als Haymans neue Biographie. Hayman hält es nicht für nötig, sein Buch zu positionieren. Die Neuausgabe der Recherche läßt ihn gänzlich unbeeindruckt. Mit keinem Wort erwähnt er Painters Marcel Proust, was ihn nicht davon abhält, sich gelegentlich dessen zu bedienen. Statt dessen zieht er es vor, Prousts Leben einfach von vorne bis hinten noch einmal zu erzählen, so als habe das vor ihm noch niemand getan. Das Dilemma aber ist: Painter hat die Anekdoten schon alle erzählt.

Wird ein neuer Blick auf Prousts Leben, Werk und Werkgenese angeboten? Gibt es neue Anekdoten über Proust oder Richtigstellungen von alten? Erspart Hayman uns den Nachdichtungskitsch seines Vorgängers? Selten, kaum, meistens. Allein in der Kommentierung von Prousts Literatur läßt Hayman ahnen, was diese Biographie bieten könnte: das Bild des Arbeiters Proust, der sein zu zwei Dritteln im Bett verbrachtes Leben immer rücksichtsloser dem Roman unterwirft, nicht umgekehrt.

Man muß Hayman zugestehen, daß er Prousts historische, soziale und psychische Lebensbedingungen konkret und meistens unverklärt betrachtet. Prousts Mutter Jeanne, geborene Weil, war die Tochter eines reichen jüdischen Börsenmaklers und einer Literatur konsumierenden Mutter. Sie hatte — darin ist sich Hayman mit Painter einig — auf ihren älteren Sohn Marcel einen stärkeren Einfluß als ihr katholischer Ehemann Adrien, der, ebenfalls aus wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen kommend, als Arzt in der Choleraforschung Karriere gemacht hat. Ihm folgte Prousts jüngerer Bruder Robert auf dem Fuß; wie der Papa wurde er Medizinprofessor. Während Marcel, der schon früh Schriftsteller werden wollte, seinem Vater bis an dessen Lebensende suspekt blieb (daran änderte auch Prousts Kompromiß, Jura und Politische Wissenschaften zu studieren, nichts), liebte die Mutter diesen Sohn inniglich. Es spricht für den Biographen, daß er auf Prousts in der Recherche betriebene Idealisierung (s)einer Mutter nicht, wie Painter, hereinfällt, sondern sie kühl zurechtrückt. Hayman hält ihr Verhältnis für neurotisch. Er hat keine Angst vor dem aggressiven Potential symbiotischer Familienliebe, und so hält er es für eine „Befreiung“, als Prousts Mutter 1905, zwei Jahre nach dem Vater, stirbt. Kehrseite dieser Nüchternheit ist die Stimme des Therapeuten, der dem Künstler bescheinigt, falsch gelebt zu haben: Die „halb inzestuöse“ Beziehung zur Mutter, meint Hayman, habe Proust „zu lange“ vom Schreiben abgehalten. Und vom Sex. Proust war homosexuell; seine Biographen sind es nicht. Painter: „Nun aber mußte Proust sich ein für allemal eingestehen, daß er ein Homosexueller war, einer der verstoßenen, verstreuten und verfemten Männer aus Sodom, aus dem Volk, das noch mehr Tragik und Verachtung zu tragen hat als selbst die Juden. Er war ein Verbrecher (...).“ Irrtum: Homosexuelle Handlungen waren zu Prousts Zeit vor dem Gesetz nicht verboten. Laut französischer Enzyklopädie hat der Code pénal des Code Napoléon, der seit 1810 in Frankreich Rechtsgrundlage war, Homosexualität anerkannt; wenn sie also als Laster galt, so war sie dennoch nicht als Verbrechen verfolgt. Hayman macht Proust zwar nicht zum Verbrecher, klärt aber Painters Irrtum nicht auf.

Obwohl Proust seine Homosexualität, anders als Gide und Wilde, nicht öffentlich gemacht hat, spielt er das poetische Spektrum des Stigmas Homosexualität (das er schon mit dem der Juden vergleicht) in seinem Roman großartig aus — man denke an den brillanten Masochisten Monsieur de Charlus. Er führt uns ein ganzes Universum verschiedenster sexueller Attraktionen vor, diesseits des Verbrechens. Prousts Spiel mit der Macht sexueller Vorstellungen, das auf manchmal groteske Weise mit der Verhinderung sexueller Kontakte verbunden ist, nehmen beide Biographen nicht wahr.

In der Recherche hat Proust eine Figur geschaffen, an der sich seine exzessive Poesie eifersüchtigen Begehrens ausgezeichnet erprobt und bestätigt: Albertine. Der Ich-Erzähler des Romans hält die junge Frau für lesbisch, was ihn zugleich dämonisch anzieht, entsetzlich eifersüchtig macht und zu ausschweifenden Überlegungen inspiriert. Proust hat die Unterstellung von Albertines Homosexualität (ob sie zutrifft, bleibt offen) als Bedingung eines Begehrens eingesetzt, welches immer nur das eine will: Unsicherheit. Biograph Hayman flüchtet in die konventionelle Deutung. Aus der Tatsache, daß Proust in seinen Chauffeur und Sekretär Alfred Agostinelli verliebt gewesen ist (das belegt seine Korrespondenz), schließt Hayman: „Even when making love or when having love made to him, Proust couldn't believe he was lovable.“ Grund der rührenden Einfühlung: Hayman nimmt an, die Albertine- Figur des Romans sei ein transformierter Alfred. Und da jene dem Erzähler des Nachts die Zunge in den Mund steckt, meint Prousts Biograph, auch der Fahrer Alfred habe den Dichter auf diese Weise beglückt.

Ronald Hayman: Proust — A Biography , Heinemann: London 1990, 564 Seiten, geb. 20 £ (69 DM);

George D. Painter: Marcel Proust (Teil 1 und 2), Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M. 1980 (zuerst 1968), insges. 1.200 Seiten, 32 DM. Die englische Originalausgabe erschien 1959/65 in zwei Teilen.

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