Ein schriller Reigen

■ Zur deutschen Erstaufführung von Joshua Sobols „Jerusalem Syndrom“ in Wiesbaden

Es beginnt drastisch. Der Offizier einer Militärstreife zwingt einen jungen Soldaten, die Lebensmittel einer Frau zu zertrampeln. Es könnte sich um eine israelische Militärstreife handeln: In Wiesbaden, wo man Sobols Stück nach der Uraufführung in Tel Aviv vor drei Jahren jetzt inszenierte, kennzeichnet man das nicht eindeutig. So bleibt auch unklar, ob es eine Palästinenserin ist, über deren Habe der junge Soldat nach anfänglichem Sträuben wie in Trance wütet. Aus der realistischen Eingangszene wird ein Alptraum, und darin verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse dann gänzlich. Vermeintliche Opfer werden zu grausamen Tätern, und der junge Soldat erhält immer mehr die Züge eines bemitleidenswerten Opfers. Wechselweise will er zur Mutter oder in den Traum vom großen Feldherrn flüchten.

Ungewöhnlich, was sich auf der Wiesbadener Bühne abspielt. Die Spielsituationen und Atmosphären wechseln schnell, und man fühlt sich einem unaufhaltsamen Treiben von Haß, Gewalt, sexuellen Hörigkeiten und Begierden ausgesetzt. „Transformationen“ nennt Joshua Sobol die schnellen Wechsel seines schrillen Todesreigens, in dem sich die Zeitebenen einer ruinenhaften Zukunft und der jüdischen Geschichte zur Zeit des Masada-Aufstandes im 1. Jahrhundert n.Chr. mischen, ein Todesreigen, den der Wiesbadener Regisseur Johannes Klaus in einem Niemandsland zwischen Irrenanstalt und Vaudeville ansiedelt.

Stahlsäulen stehen funktionslos auf der Bühne, oben an einer Seitenwand hängt undurchsichtigerweise ein Schiffsbug. Eine Katastrophe muß sich ereignet haben. Immer wieder tritt aus dem schnellen Reigen die Sopranistin Raphaela Weil und singt als Klageweib bedrückend schwermütig. Es sind kurze Ruhepunkte, in denen die Zeit still zu stehen scheint, bevor Sobols machtloser König wie ein leibhaftiger Roi Ubu hinter der jungen Frau her ist, von der man zu Beginn des Stückes erfährt, sie sei die Freundin des jungen Soldaten. König und Gespielin ziehen sich vergnügt über eine Leiter in den Schiffbug zurück. Das spitze Lachen der jungen Frau ist während des ganzen Stückes wie ein hintergründiger Kommentar aus all den Ecken zu hören, in denen sie es gerade mit dem König treibt. Wenn sie sich einmal losreißt, tänzelt sie kokett am Bühnenrand, schräg und verzweifelt. Carolin Fink spielt die Koketterie wie den mißglückten Versuch, in ein normaleres Leben zu finden, aber ihr Schauspiel muß im schnellen Wechsel des Stücks um die scharfen Konturen kämpfen.

Immer wieder wird die Figur auch in ein zu mildes Licht getaucht — es werden Musicaleinlagen gegeben. In solchen Momenten droht die Inszenierung zum Bilderbogen zu werden, und irgendwie scheint alles dann doch nicht so gemeint zu sein, wie es aussieht. Im Programmheft fragt sich Joshua Sobol, ob sein Stück chaotisch genug sei, um die chaotischen Muster historischer Ereignisse zu reflektieren. Man möchte ihm antworten, daß es auf der Bühne zu chaotisch zu werden droht, und daß es beim Lesen übersichtlicher schien. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, daß Sobol ein Spiel im Spiel geschrieben hat. Der symbolisch aufgeladene Reigen ist eine Theaterprobe, und die Figuren treten immer wieder aus ihrer Rolle heraus, fragen, zeigen Unlust. Geleitet wird das Unternehmen von einem Geschichtsprofessor, der den Regisseur abgibt. Einzig der zentralen Figur des Stückes, dem jungen Soldaten, kommt die Möglichkeit der Distanzierung immer mehr abhanden. Achim Buch spielt ihn nah am Abgrund, ein Schwankender, in einen Krieg geschickt, aus dem er als Toter zurückkehren muß, auch wenn er körperlich unversehrt bleibt. Sein Halt ist die Maschinenpistole, aus der sich irgendwann zwangsläufig ein Schuß lösen muß — am Ende trifft es die Frau, deren Lebensmittel er am Anfang zertrampelte.

Johannes Klaus, der kürzlich Florian Felix Weyhs „Haben Sie ein I“ recht angestrengt über die Runden brachte, hat mit dem Jerusalem Syndrom eine überzeugendere Inszenierung mit einem hoch motivierten Ensemble erarbeitet. Alles geht, wie gesagt, sehr schnell, dauert gegen Ende aber zu lange. Es kommt zu Wiederholungen und irgendwann mag man auch den Berichterstatter nicht mehr sehen, den Till Krabbe mephistophelisch und mit einem Mikro in der Cola-Dose gibt. Eigentlich würde man gerne das allmählich leerlaufende Theater verlassen, dann aber blitzt es doch noch einmal auf. Der junge Soldat auf Heimaturlaub erzählt seinen Eltern vom Töten, und die hören voller Stolz die Details aus dem Job ihres Sohns. In Wiesbaden wird das einfach und ohne Schnörkel gespielt, trifft dadurch umso mehr und zeigt noch einmal die Brisanz von Sobols Jerusalem Syndrom — eine Brisanz, die es wohl noch lange haben wird. Jürgen Berger

Joshua Sobol: Jerusalem Syndrom. Regie: Johannes Klaus. Mit Till Krabbe, Achim Buch, Raphaela Weil, Carolin Fink. Hessisches Staatstheater Wiesbaden.