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Invasion aus dem Osten

■ Die Berliner Journaille und ihr Objekt der Begierde

Berlin, Kantstraße, mittags. Düster hängt der Himmel über der Konsummeile. Der Wind pfeift winselnd um die Ecken. Kalt bläst er den Hütern des Gesetzes ins Gesicht, die sich überall in den Hauseingängen drücken. Da! Sie kommen. Eine ganze Horde. Große schwarze Schultertaschen hängen ihnen bis tief in die Kniekehlen. Ruhelos wandern ihre Augen hin und her, entdecken den ersten Elektronikladen. Mit einigen schnellen Schritten sind sie da, stoßen die Tür auf. „Nein!“ schreit der Besitzer auf und bricht weinend hinter seiner Theke zusammen. „Verschont mich! Vor euch waren schon so viele da. Sie haben mich ausgepreßt.“ Doch die Bande kennt keine Gnade. Wie von selbst wandern ihnen ihre Waffen in die Hände: Kugelschreiber werden gezückt, Mikrophone zielen auf den Wehrlosen, Kameraaugen belauern ihn. „Die Polen! Wo sind sie?“

Zitternd deutet der Ladeninhaber auf zwei Kunden. Die Meute nimmt die neuen Opfer ins Visier, pirscht sich leise heran. Doch die beiden Männer sind schneller. Sie gehen hinter den Kartonbergen in Deckung. Wutgebrüll entfährt den Gefoppten. Sie stürzen zurück auf die Straße. Mit zwei Videokassetten gehen die beiden Polen seelenruhig an die Kasse.

Draußen beginnt eine wilde Verfolgungsjagd. Ein junger polnischer Mann rast mit seinem Einkaufswägelchen über das Pflaster. Das Videogerät im braunen, die Schokoladentafeln im weiß-grünen Karton versucht er verzweifelt, nicht im Dreck zu landen. Dicht hinter dem Polen einer der Bande. Jetzt hält er ihm das Mikro unter die Nase. Ein Gesetzeshüter beobachtet die Tat, schreitet aber nicht ein. „prosze, prosze“ (bitte, bitte!) flüstert der Verfolgte heiser. In einem unbedachten Moment kann er seinem Peiniger entkommen.

Der Rest der Horde belagert inzwischen Aldi. Auf ihrem Weg dahin sind sie noch kurz über Bolle hergefallen. Sie waren gerade dabei, einen kleinen dunkelhaarigen Mann an der Kasse als Geisel zu nehmen, als dieser sich als Italiener entpuppte. In ihrer Enttäuschung hätten sie ihn vielleicht trotzdem als Polen verschleppt, wenn nicht ein Spitzel mit der Nachricht: „Aldi ist leergekauft!“ hereingehastet wäre.

Der Billigsupermarkt ist eingekreist, alle Ausgänge sind bewacht. Die Kamera zeigt schußbereit auf die Doppeltür. Doch es sind nur einzelne, die Pappen mit Margarine und Kaffeeweißern schüchtern unter den Armen. Jetzt stürmt die Bande den Laden. Wo ist sie, die Invasion aus dem Osten? Sie haben sie doch für heute herbeigeschrieben! Mit letzter Kraft durchsuchen die Medienidioten die vollgefüllten Regale — und geben sich dann zwischen den Kartons den Gnadenschuß. Bascha Mika

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