: Richard auf Reisen
Der Bundespräsident besucht die Provinz/ Wie weiland Honecker werden ihm potemkinsche Dörfer präsentiert/ Richard beißt die Zähne zusammen ■ Aus Halle Steve Körner
Das hatte Richard von Weizsäcker nun wirklich nicht verdient. Vormittags Leuna, nachmittags Halle. Und beide Male wird Deutschlands höchster Repräsentant mit dem Pomp eines babylonischen Potentaten empfangen und anschließend von diversen Provinzfürsten gnadenlos vorbeigeschleust an frischgesetzten Gartenzäunen, gerade erst geweißten Wänden und gemustert geharkten staubigen Freiflächen. Weizsäcker aber biß routiniert die Zähne zusammen und äußerte sich am Ende gar noch befriedigt über seine samstägliche Stippvisite in einem der großen Krisengebiete Ostdeutschlands. Seine Gastgeber, vor allem aus dem Leuna-Werk, hatten sich aber auch alle Mühe gegeben, dem Bundespräsidenten seinen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Und obgleich die Kassen des Ex-Kombinates notorisch leer sind — man hatte keinerlei Kosten gescheut.
Schon zwei Wochen vor dem TagX liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Es war, als hätte es niemals eine Wende gegeben. Wie zu Zeiten hochherrschaftlicher Honecker-Besuche tagten die Vorbereitungskomitees, wurde alles verfügbare Fußvolk bei jeder Gelegenheit in die Freiflächen entlang der Protokollstrecke gejagt. Die Leuna-Chefetage, dank der beispielhaft kontinuierlichen Personalpolitik der Treuhand unglaublich beschlagen in allen Fragen der Empfangsetikette, spielte ihre ganze diesbezügliche Routine überzeugend aus. Wie in den Tagen, als Staatsratsvorsitzender Honecker noch zum historischen Knöpfedrücken bei der Einschaltung neuer Produktionsanlagen herbeizueilen pflegte, lief die Vorbereitungsmaschine auf Hochtouren. Und aus dem häßlichen Industriestädtchen Leuna wurde nach vierzehn Tagen harter Arbeit für einen sonnigen Vormittag ein prima potemkinsches Dorf.
Über die plötzliche Großmut des Chemiekonzerns, der mit großem Eifer alle Arbeiten finanzierte und koordinierte, staunte selbst CDU- Bürgermeister Wiese. Hatte das Leuna-Werk doch seit Herbst 89 alle früher staatlich verordneten Fäden zwischen Werk und Territorium gekappt und auch in jüngster Zeit kein Interesse daran gezeigt, seine ehemalige Werkssiedlung auf Vordermann zu bringen. Erst mit Richard regte sich was. Und plötzlich hatte vorm Hintergrund strahlend hell gestrichener Geländer und Leitplanken selbst der von den Wänden blätternde Putz an den Mietskasernen des Werks etwas Malerisches.
Weizsäcker konnte sich getrost glücklich schätzen: Allein die Ankündigung seines Besuches bescherte dem einen Leunaer Bürger einen neuen Gartenzaun, auf den er zuvor jahrelang gewartet hatte, dem anderen eine reparierte Hofmauer. Sämtliche Straßenmarkierungen im Ort wurden außerdem schnell mal nachgezogen. Wohingegen in Halle leider der allsamstägliche Frischemarkt für diesmal gleich komplett abgesagt wurde: wg. Weizsäcker. Sowenig erfreulich das für die Hallenser war, sowenig erfreulich war für Weizsäcker, der immer wieder für „mehr Mut, mehr Optimismus“ warb, was er an sonstigen Erkenntnissen außer dem Augenschein aus dem maroden Chemieriesen Leuna mitnahm. 5.200 Entlassungen noch in diesem Jahr, Erlöse, die durchweg den Aufwand nicht decken, Absatzschwierigkeiten, weil große Ladenketten Leuna-Haushaltsreiniger und -Spülmittel nicht „listen“ — wie leicht hätte das dem Richard wohl auf den Magen schlagen können? Hätten nicht die verantwortungsbewußten Genossen der Konzernleitung wenigstens für den richtigen optisch- optimistischen Eindruck gesorgt. Wie noch stets, wenn der Kaiser kucken kam.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen