piwik no script img

Wo ist Pinochet?

■ In der Sowjetunion wird es einen klassischen Militärputsch nicht geben

„Sie fragen, ob wir schießen werden, wenn in unserem Nachbarbezirk Unruhen ausbrechen? Ich versichere Ihnen: Welcher Befehl auch kommen mag, wir werden ihn erfüllen. Natürlich werden wir uns so lange als möglich zurückhalten, aber wenn man uns beleidigt, mit Steinen bewirft, anspuckt, dann ist die Armee zu allem fähig.“

Soweit ein Offizier einer Panzerdivision, den zwei Journalisten der 'Iswestija‘ besuchten. Mit dieser Meinung steht der Militär nicht allein. Oberstleutnant Antonow, nach den Ereignissen in Litauen befragt, meint, man „hätte Landsbergis stürzen und das litauische Volk befreien sollen“. Für Jelzin, Popow, Sobtschak und die anderen „Demokraten“ hat keiner von den Offizieren ein gutes Wort übrig. Bei ihnen heißen sie nur „Schreihälse“:

„Die Schreihälse haben das Land so weit gebracht...“

„Die Schreihälse lassen das Volkk hungern...“

„Die Schreihälse provozieren die Armee...“

Das Offizierskorps ist zutiefst verunsichert. Die äußere Bedrohung ist faktisch weggefallen, der „Komplex des Jahres 1941“, der stets die kolossalen Anstrengungen für eine hohe Gefechtsbereitschaft und eine waffentechnische Parität mit den USA gerechtfertigt hatte, hält die Armee nicht mehr zusammen. Dafür steht jetzt der Hauptfeind im eigenen Land — die „Schreihälse“, die Funktionäre der Volksfronten, Landsbergis...

In zahlreichen Republiken werden die sowjetischen Truppen mittlerweile als Okkupanten angesehen, teilweise diskriminiert und beleidigt. „Früher bin ich in Uniform in den Urlaub gefahren“, erzählt Oberstleutnant Arnautow, „da wurde man geachtet. Heute bekommt man zwangsläufig Schwierigkeiten, wenn man in einer größeren Stadt in Uniform auftaucht.“

Die soziale Lage hat sich für viele Offiziere durch den Rückzug aus Osteuropa und die immense Truppenreduzierung drastisch verschlechtert — das brisanteste Problem ist die Wohnungsnot. Vor allem hochqualifizierte Spezialisten, Ingenieure, Informatiker und Ärzte verlassen zu Hauf die Armee, um sich in der im Entstehen begriffenen Privatwirtschaft ein besseres Auskommen zu sichern. So sehnen sich viele Offiziere vor allem nach einem — nach Recht und Ordnung, nach Berechenbarkeit und Sicherheit, nach einer klaren Perspektive.

Könnte deshalb das Szenario eines Militärputsches, das schon monatelang durch die Medien grassiert, Wirklichkeit werden? Die Journalisten übertreffen sich jedenfalls gegenseitig im Ausmalen von apokalyptischen Visionen. In fast masochistischer Wollust wird von den „schwarzen Obristen“ Alksnis und Petruschenko berichtet, die, nachdem sie Innenminister Bakatin und Außenminister Schewardnadse kippten, nun „Todesengeln“ gleich und finstere Putschpläne im Kopf, durch die Gänge des Parlaments schreiten. Ostexperten und Kreml-Astrologen! Seid zufrieden, daß die schwarzen Obristen im Parlament sitzen und sich den Journalisten stellen. Die waschechten Putschisten betreten Regierungsstellen meist schwerbewaffnet, und ihre Tätigkeit im Parlament beschränkt sich darauf, dasselbe für eine unbestimmte Zeit aufzulösen.

Alksnis und Petruschenko sind bei all ihrem tumben Konservatismus doch erste, zarte Pflänzchen einer Spezies von „Staatsbürgern in Uniform“.

Die Gefahr einer Entwicklung hin zum Autoritarismus ist in der Sowjetunion insgesamt als auch in einzelnen Teilrepubliken sehr akut. Alle Voraussetzungen für eine bonapartistische Lösung sind gegeben: Das Patt bei der Auseinandersetzung zwischen Reformern und Konservativen einerseits und dem Zentrum andererseits, eine Wirtschaftskrise mit katastrophalen Folgen für das allgemeine Lebensniveau, Chaos, teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände, steigende Kriminalität und eine verunsicherte Bevölkerung, die „law and order“ fordert und förmlich nach einer starken Hand ruft.

Doch eine Militärdiktatur nach klassischem Muster — die Armee reißt vermittels eines Diktators oder einer Junta aus den eigenen Reihen die Macht an sich und verbietet jegliche politische Betätigung — wird es in der Sowjetunion nicht geben. Obwohl die russische Geschichte durchaus Beispiele für Offiziersverschwörungen kennt: Die Ermordung Peter III. 1762, Paul I. 1801, der Dekabristenaufstand 1825 und der Putsch von General Kornilow im Sommer 1917 — doch waren das eher Palastrevolutionen, bei denen die Armee nicht vorhatte, die Macht selbst in die Hand zu nehmen.

So schreibt General Denikin, einer der Führer der „Weißen“ im Bürgerkrieg, daß die russische Armee nach dem Sturz des Zaren diesem nicht zu Hilfe eilte, sondern diszipliniert den Befehl zum Treueeid auf die neue Regierung abgewartet hat.

Die Rote Armee hat erst recht keine bonapartistischen Traditionen. 70 Jahre lang war sie ein Werkzeug der Politik, das sich strikt auf seine militärischen Aufgaben zu beschränken hatte. Die mächtige, von Stalin vor dem Zweiten Weltkrieg reaktivierte Institution der Politkommissare war Garant für eine uneingeschränkte Loyalität der Armee gegenüber der Partei. Die eigenwilligen Heerführer wie Tuchatschewski, Jegorow oder Uborewitsch fielen der „großen Säuberung“ 1937 zum Opfer. Der bescheidene Versuch des Marschall Schukows, als Verteidigungsminister die Vormachtstellung der Politkommissare in der Truppe abzubauen, wurden sofort von Chruschtschow mit der Pensionierung Schukows geahndet.

Seitdem gab es in politischen Fragen zwischen Partei und Armeeführung kaum ernsthafte Differenzen mehr. Das Offizierskorps ud die Generalität wurden in diesem Sinne geformt — solide ausgebildet und politisch bieder, „ehrliche, aber beschränkte Troupiers“, wie Christoph Bertram den Marschall Jasow zutreffend charakterisierte. Politische Köpfe scheint die Armee nicht mehr hervorzubringen. General Makaschow, der das Kunststück fertigbrachte, auf dem ohnehin erzkonservativen Gründungsparteitag der KP der RSFSR durch seine scharfmacherische Rede aufzufallen, wurde eine Zeitlang neben General Rodionow, dem ehemaligen Befehlshaber des kaukasischen Militärbezirkes und Verantwortlichen für den Militäreinsatz in Tbilissi und General Gromow, dem heutigen stellvertretenden Innenminister und letzten Befehlshaber der Afghanistan-Streitmacht, als möglicher Junta-Chef gehandelt. Eben dieser Makaschew hat eine Broschüre für seine Unterstellten unter dem bezeichnenden Titel „Die Wissenschaft des Sieges“ veröffentlicht. Die Zeitschrift 'Ogonjok‘ hat Auszüge abgedruckt. Darin finden sich solch wertvolle Hinweise, daß es in der Banja (russ. Sauna und Waschgelegenheit für die Soldaten — d.A.) sauber und trocken sein muß, das Wasser heiß. Der Kommandeur darf nicht mit der Pistole nach Hause gehen, darf seine Frau nicht kontrollieren oder mit der Nachbarin „Tee trinken“ (?!). Die Pistole ist stets im Halfter zu tragen, um sie nicht zu verlieren. Neben diesen rein praktischen Anweisungen spart der General auch nicht mit allgemeinen Lebensweisheiten: „Was schadet dem Kommandeur am meisten? Sauferei, Frauen, Diebstahl. Sauf nicht, klaue nicht, treib dich nicht rum! Und wenn du dann noch arbeitest, wird der Ruhm dich von selbst finden!“

Und ein Mann mit einem solchen geistigen Horizont soll der künftige Diktator eines Riesenreiches sein? Das wäre schlichtweg eine Beleidigung für ein Kulturvolk.

Jurij Prokofjew, der Moskauer KP-Chef, hat die Situation in der Sowjetunion neulich mit Chile kurz vor dem Putsch 1973 verglichen, und Gorbatschow mit Allende. Die zynische, aber folgerichtige Frage, wer denn dann Pinochet sei, ließ er unbeantwortet — aus den Reihen der Armee wird er wahrscheinlich nicht kommen. Denn heute ist die Armee selbst ideologisch gespalten. Obwohl die Masse der Offiziere traditionell konservativ-kommunistisch eingestellt ist, scheinen die Lenin-Bilder und -Zimmer, die Losungen vom sozialistischem Wettbewerb und das Studium der Beschlüsse der KPdSU nur noch obligatorisch zelebrierte Rituale zu sein. Eine neue Art von Konservativismus bahnt sich in der Armee an — der großrussische Nationalismus, die Sorge um den Erhalt der „Derschawa“, des Imperiums. Im Soldatensender 'Wolga‘ berufen sich hohe Offiziere immer öfter auf ihre Pflicht dem „Otetschestwo“, dem Vaterland gegenüber. Dieser Begriff ist für viele Russen heilig, ist er doch in den beiden „Vaterländischen Kriegen“ verewigt.

Solch ein „Paradigma-Wechsel“ jedoch von der „Armee des werktätigen Volkes“ zur Armee als Garant der inneren Stabilität und nationaler Bedeutsamkeit, der für eine ethische, normative Legitimation eines erfolgreichen Putsches unumgänglich wäre, deutet sich aber eben erst an. Ganz zu schweigen von den Offizieren, die sich in der Gruppe „Schit“ (Schild) zusammengetan haben, einer Art Armee-Gewerkschaft, die mittlerweile eine der Stützen der demokratischen Bewegung ist.

Und noch eines sollte hier angemerkt werden: Die Macht im Kreml ist längst nicht mehr so attraktiv wie früher. Über kurz oder lang wird man einen Großteil der realen Befugnisse sowieso an die Republiken abgeben müssen. Und in der jetzigen Krise wiegt die Bürde der Macht so schwer, daß keiner so recht nach ihr greifen möchte. Die Formel des Machterhalts ist so simpel wie evident: Nur wer das Volk satt macht, überlebt. Ein wirtschaftliches Konzept aber ist, einmal abgesehen von vollmundigen Phrasen über „soziale Gerechtigkeit“ und die „Nichtzulassung von Privateigentum und Ausbeutung“, weder bei den konservativen Kräften innerhalb der KPdSU, geschweige denn bei der Armeeführung auszumachen. Doch ohne ein Minimum an konstruktivem Programm wird man einfach nicht wissen, wohin mit der Macht, falls man sie einmal haben sollte — das versteht sogar General Makaschow.

So sollte die Rolle der Armee als eine konservative Kraft innerhalb der Gesellschaft nicht unterschätzt werden — als selbständige politische Kraft bleibt sie bis auf weiteres außen vor. Für die nahe Zukunft wäre das Optimum immer noch eine politisch loyale, verantwortungsbewußte und in sich gefestigte Armee. Wie sagte doch gleich ein junger Leutnant aus der eingangs zitierten Panzerdivision? „Wenn der Zar wiederkommt, werden wir eben auf ihn unseren Eid ablegen.“ Sein Wort in Gottes Ohr. Michael Harms

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen