piwik no script img

Wir im Osten waren Waisenknaben

Die DDR-Bürokraten sind entmachtet — doch die Diktatur der Formulare beginnt/ Enttarnung der stalinistischen Rudimente  ■ Von Steve Körner

Halle (taz) Herta Heßler wohnt in der halleschen „Interkosmosstraße“. Aber das stimmt nicht. Herta Heßler ist zwar nicht umgezogen, doch das Straßenschild vor ihrer Tür ist kürzlich gefallen: Einmal als stalinistisches Rudiment enttarnt, fand die Interkosmosstraße vor den Augen des halleschen Stadtparlaments so wenig Gnade wie „Thälmannplatz“ und „Pieckweg“. Ganz zu schweigen von der „Straße der Waffenbrüderschaft“ und der „Gasse des 30. Jahrestages der DDR“, die sich ja als Sackgasse erwiesen hat. Wie die „Straße der Aktivisten“ verschwanden sie allesamt von der halleschen Landkarte, die nach den Helden des sozialistischen Aufbaus benannten Straßen und Plätze. Die Hallenser sind's zufrieden. Wenigstens gilt das für die, die nicht in den betroffenen Altstadtgassen und Neubau-Avenuen wohnen. Alle anderen stöhnen, nachdem der Abschied von der eigenen Vergangenheit anfänglich durchaus begeistert begrüßt worden war, inzwischen genervt auf, sobald das Stichwort „Straßennamen“ fällt. Denn der Beschluß zur Straßenumbenennung, der die Stadtveordnetenversammlung der Saalestadt anstandslos passierte, zieht für die Anwohner einen Rattenschwanz von Rennereien hinter sich her. Da müssen Ausweise umgeschrieben, Versicherungen umgemeldet, da muß der Arbeitgeber genauso informiert werden wie im Falle seines Fehlens das Arbeitsamt. Außerdem müssen selbstverständlich Banken und Sparkassen, Verwandte und Freunde, Krankenkassen und Kreiswehrersatzämter Bescheid wissen. Allein in der halleschen Neustadt, die nach dreißigjährigem Dahinvegetieren ohne jeden Straßennamen nun endlich ihre berühmten Blocknummern ablegen soll, werden sich etwa fünfzig- bis sechzigtausend Erwachsene ummelden müssen. Und auch anschließend kommt Otto Normalverbraucher nicht zum Luftholen. Eben noch legte die Sparkasse sich endlich eine „westliche“ Bankleitzahl zu und zwingt einen damit, alle seine Bankverbindungen zu überprüfen, da stellt sie in einem nächsten Schritt auch schon alle Kontonummern auf das Westsystem um. Also alles noch einmal.

Die alten DDR-Schecks zählen sowieso nicht mehr: Eurocheques müssen beantragt, können Monate später abgeholt werden. Zwischendurch gilt nur Bares. Umtausch ist auch für sämtliche alten Sparbücher angesagt — neue müssen es sein. Abzuholen am linken Schalter, die Schlange ist eine Stunde lang.

Als wäre all das nicht genug, kommt gleichzeitg noch jede Menge anderes auf die Neu-Bundesbürger zwischen Rostock und Suhl zu. Während man bis zum 1. Januar dieses Jahres beispielsweise bedenkenlos zu jeder Zeit zu jedem Arzt gehen konnte, nur versehen mit seinem „Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung“, und anstandslos behandelt wurde, ist nun auch hier alles viel besser und viel komplizierter geworden. „In welcher Kasse sind Sie denn?“, ist heute beim Artzbesuch eine Frage, die noch stets vor „Was fehlt ihnen?“ kommt. Wer Pech hat, ist in der falschen und muß, ehe sich zum Beispiel der Augenarzt dazu herabläßt, ihm prüfend in die Pupille zu blicken, noch einmal zu seinem Allgemeinmediziner gehen, um sich eine Überweisung fürs aktuelle Quartal zu holen. Ohne geht gar nichts.

Als hätte man nichts anderes zu tun, nörgeln die vom maroden Gesundheitssystem der DDR verwöhnten Patienten, die sich längst abgewöhnt haben, über die scheiß-sozialistische Medizin zu meckern. Jetzt hechelt man viel lieber das gegliederte System der Krankenkassen durch. Denn man hat zu tun. Alle Hände voll sogar. Schließlich bombardieren einen Arbeits- und Sozialamt unentwegt mit neuen Formularen und Vordrucken, die man „baldmöglichst“ ausgefüllt und zurückgesandt haben möchte. „Und wenn Sie sich nicht sicher sind, daß Sie alles richtig ausfüllen können, dann kommen Sie besser doch persönlich vorbei“, steht im Kleingedruckten, das mittlerweile alle zuerst lesen. Hunderte jagen folglich los, Tausende sogar. Schließlich will niemand Geld verlieren. Und schon gar nicht will man es dem „Staat“ schenken.

Aber der bundesdeutsche Bürohengst nutzt den Auslauf im Osten noch viel ausführlicher. Die Ex- DDRler, obschon im Umgang mit allerlei arroganten Ämtern routiniert, starren und staunen. Früher ging alles automatisch, heute braucht es für Alles und Nichts erstmal Anträge und Nachweise, Durchschriften, Kopien und Beglaubigungen. Statt einer Geburtsurkunde bekommen die neugeborenen Bundis nun gleich fünf eingepackt. Um eine Monatskarte der Straßenbahn zu bekommen, benötigt man neuerdings eine Kundenkarte, die natürlich, bitte persönlich, im Hauptquartier der Bahn beantragt werden soll. Ansonsten keine Bearbeitung.

Gar nicht zu reden von denen, die das Schicksal in diesem historischen Moment der Verschmelzung der beiden deutschen Bürokratien mit einem gerade neu zugelegten Gebrauchtwagen geschlagen hat. Denn die werden gar nicht mehr fertig. Die Zulassungsämter, im Januar erst aus dem Verantwortungsbereich der Polizei in den der einzelnen Landratsämter übergegangen, sind vollkommen überlastet. Die Schlangen vor ihren Türen wuchern wie wildes Fleisch. Ginge es nicht um rollendes Blech, kein Mensch würde diese Tortur auf sich nehmen: Einmal zur Versicherung, um die Doppelkarte abzuholen, dann mit dieser und einem Übermaß Geduld ausgestattet für drei, vier oder mehr Stunden zur Zulassungsstelle. Anschließend retour zur Versicherung, die Doppelkarte abgeben, Vertrag unterschreiben, bezahlen. Natürlich nicht mit Scheck — siehe oben.

Und angenommen, Autofahrer XY hat aus irgendeinem dunklen Grund erst einmal noch keine neue bundesdeutsche Kennzeichennummer bekommen, dann gibt ihm das Gelegenheit, die gesamte umfängliche Prozedur demnächst noch einmal zu wiederholen. Denn spätestens bis 1995 müssen sich alle Hallenser mit HAL zu erkennen geben.

Selbst die Vorruheständler, von denen man anderes denken sollte, kommen nicht zur Ruhe. Weil auch sie wohl nichts Besseres zu tun haben, dürfen die betroffenen Damen und Herren einmal monatlich in den Gehaltsabteilungen ihrer ehemaligen Firma antreten, um sich den Differenzbetrag zwischen Arbeitslosengeld und vereinbarten Ruhestandsbezügen auszahlen zu lassen. Aber was tut man nicht alles für Geld?

An den Flaschenkassen der Supermärkte wird Getränkeleergut nur noch gegen Vorlage einer ordnungsgemäßen Kaufbescheinigung zurückgenommen. Wer Zahnersatz benötigt, muß sich von seinem Zahnarzt erst einmal einen Kostenvoranschlag machen lassen, zu dem die Krankenkassen dann Ja und Amen oder sonst etwas zu sagen hat. Nur Einzelgenehmigungen der Post zur Installation von Satellitenschüsseln braucht man nun nicht mehr, dafür allerdings die Einwilligung des Vermieters respektive Hausbesitzers, von dem oft genug niemand weiß, wer und wo er ist.

Die Entbürokratisierung der Gesellschaft, die Vertreibung der Apparatschiks aus dem Alltag, wie sie sich die Demonstranten vom Herbst '89 auf die Fahnen geschrieben hatten, ist jedenfalls komplett in die Hose gegangen. Ein halbes Jahr, nachdem die bundesdeutschen Amtsstuben begonnen haben, die Papierberge der ostdeutschen Verwaltungen zu entwirren und unter sich aufzuteilen, wiehert der Amtsschimmel landauf landab so laut wie nie zuvor. Was sind schon Honeckers Parteisoldaten mit ihren primitiven Planabrechnungen gegen das alles erschlagende computergesteuerte Chaos der westdeutschen Beantragungsbürokratie? Und was ist ein Ausreiseantrag gegen die scheu vorgebrachte Bitte um weitere Steuerbefreiung eines aus Nordrhein-Westfalen importierten steuerbefreiten alten „Kadett“ mit Kat?

„Wir waren doch Waisenkaben“, sagt selbst der Schalterbeamte vom halleschen Finanzamt wehmütig, wenn er an die alten Zeiten denkt: „Zwei Sorten Formulare hatten wir ungefähr — ich glaube, heute haben wir zweihundert.“ Steve Körner

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen