Von der Inquisition zur Akquisition

oder Das Ende der Defa als solcher  ■ Von Dietmar Hochmuth

Vor gut einem Jahr versammelten sich im ehemaligen Kultursaal des ehemaligen „VEB Defa-Studio für Spielfilme“ die sogenannten, inzwischen ebenso ehemaligen künstlerischen Mitarbeiter zu einer Lagebesprechung „Wie weiter?“. Damals war noch nicht abzusehen, daß die DDR keine zehn Monate später, in welchen Erwähnungen auch immer, mit dem Kondolenzwörtchen „ehemalig“ versehen sein wird. Nur die allergrößten Skeptiker wagten zu prophezeien, was inzwischen längst knallharter Fakt geworden ist: „Die Defa als solche“ gibt es heute nicht mehr.

Damals hing noch die Losung „Kunst ist Waffe in den Kämpfen unserer Zeit“ über dem Zwei-Mann- Präsidium aus Generaldirektor und Chefdramaturg („Wir denken nicht an Rücktritt...“). In Interviews hieß es: Defa soll sein, bevor der erste entlassen wird, gehe ich selber... Inzwischen wurde abgerüstet, nein, umgerüstet: von der Inquisition zur Akquisition. Und nachdem Kunst Waffe war, schweigen jetzt die Waffen — wie auch die Soldaten. Sie wurden abgefunden mit ihrer Personalakte und — vergleicht man den in jeder Illustrierten nachzulesenden „reinen Immobilienwert“ ihrer Hinterlassenschaft (440 Millionen DM) und den herrenlosen Filmstock — einer eher lächerlichen Summe „neuen Geldes“.

Gesetzt den Fall, Anfang November 89 wäre ein Drehstab von Reisekadern in die Antarktis ausgeschwärmt, für einen 13-Teiler des DDR-Fernsehens etwa, sie hätten bei der Rückkehr ihr blaues Wunder erlebt. Nicht nur wegen der Massenflucht aus der Mitgliederkartei, auch zum Beispiel bei dem Versuch, im Büro der Parteileitung ihre Beiträge nachzuzahlen. Da klebte nämlich ausgerechnet an dieser Tür als Provisorium die Visitenkarte eines neuen Mieters: des „Senior Consultant“ einer Bank, die einen berühmten New Yorker Stadtteil in ihrem Namen führt. Der Mann hieß auch noch Degen, durchmaß mit (treu)handlichem Eifer und Funktelefon das Gelände und ward alsbald nicht mehr gesehen. Genauso wie der Vorsitzende eines bislang nicht zustande gekommenen Aufsichtsrates, ein Herr Gellert. Welt sollte in das Studio kommen, Geld blieb aus.

Mittlerweile ist der Defa-Rumpf nur noch Konkurrenz für die Medienstandorte Hamburg, München und Köln, und die soll weiter schrumpfen, abhungern, ausgedünnt werden zum Abholpreis. Während die Abschreibe-Uhren nur so ticken, massieren die Politiker aus dem (Um)Land die neuen Worthülsen aus der Fibel Aufschwung Ost: Zeichen setzen, Medienstandort erhalten, sanieren. Dabei scheint die Vorstellung, einen bisher vollsubventionierten Kulturbetrieb wirtschaftlich sanieren zu wollen, ebenso absurd wie das Ansinnen, ein Lyzeum in den Stand zu zwingen, daß „es sich rechnet“.

Inzwischen ist die einstige Besatzung von 2.300 Mitarbeitern auf ein Drittel geschrumpft, und sie schrumpft weiter mit jeder möglichen Kündigungsfristabbüßung; das Gelände gleicht einer Mondlandschaft. Bewacht wird es von einer privaten Wachschutzfirma, dafür ist Geld da, für das Umkopieren von Filmen auf Videokassetten schon nicht mehr (die „freigesetzten“ Macher wollen sich auf dem freien Markt mit mehr ins Gespräch bringen als nur dem Kürzel Defa auf den Lippen). Eine französische Journalistin erzählte neulich, wie traurig einer der wenigen verbliebenen Abteilungsleiter jeden Morgen darüber sei, daß er im Studio so viele gute Freunde nicht mehr sehe. Wie traurig wird er erst sein, wenn er auch das Studio nicht mehr sieht.

Vor Entlassungen trifft man sich zu Vollversammlungen, die diesen Namen kaum mehr verdienen. Die größte war vor Weihnachten in einem leeren Atelier und erinnerte auf makabre Weise an die Max-von-der Grün-Verfilmungen, wie sie in den sechziger Jahren von der Defa fürs Fernsehen gedreht wurden. Unten das Arbeitnehmervolk, es ruft nach Brot und Arbeit, oben auf der Tribüne mit grauem Fahnentuch: die neuen Arbeitgeber (die alte Direktion) und ein verzweifelter Mann von der IG Medien, der Mut zuspricht. Geblieben ist die alt-neue Administration, man heißt jetzt standesgemäß Geschäftsführung — die Kapitäne verlassen „in Verantwortung“ das sinkende Schiff als letzte (oder gar nicht). Anfragen an die Vergangenheit, etwa nach dem Spinnennetz der fürsorglichen Überwachung, gab es keine. Statt dessen ist es nicht anders als in fast allen Ostberliner Verlagen, wo, wie neulich ein Bekannter bitter ulkte, die alten Parteileitungen residieren.

Am Telefon meldet man sich zünftig mit „Studio Babelsberg“, hoffähig und in Anlehnung an den neuen Hamburger großen Bruder, für Öffentlichkeitsarbeit steht nun das substantivierte Gerundium Marketing.

Und doch funktionieren einige Dinge nach dem traditionellen Schema: Im Winter zum Beispiel lud das Straßburger Festival Kreuzung der Kulturen vier Defa-Filme ein, dazu zwei jüngere Macher, die — weil nicht aufs Herumreichen abonniert — schon seit einigen Jahren dort vergeblich erwartet wurden. Nun konnten sie sich selbst auf den Weg machen ins Elsaß, ohne den gnadenvollen Zuschlag aus Hauptverwaltung Film und Paßbehörde. Und doch bestand „die Defa als solche“ auf der Einladung eines Offiziellen und nur eines Regisseurs, damit das Bild, welches die beiden Zornigen dort in Diskussionen malen könnten, nicht zu einseitig gerät. Abenteuerlust beim Ausgeladenen (mir) und die Großzügigkeit des Goethe-Instituts vor Ort führten am Ende doch noch zur Konstellation 2+1, so daß der „Offizielle“, der in traditioneller Manier mit den gezeigten Filmen nichts zu tun hatte, nicht schlecht staunte. Trägheit auf allen Seiten: Auch der Veranstalter geht lammfromm die alten Instanzenwege und folgt traditionell einschränkenden Wünschen einer Administration, von der noch immer alles abzuhängen scheint.

Genaue Angaben über die heute aktuelle Mitarbeiterzahl sind nicht zu erfahren. Wer wirklich entlassen ist, weiß man eigentlich nur von sich selbst. Das Thema ist sogar im engsten Kollegenkreis tabu — dazu die statistischen Alimentierungen über Zauberformeln wie Kurzarbeit Null und ABM etc. Auf alle Fälle wird zu wenig produziert, als daß die Produktionskultur, geschweige denn die technischen Kapazitäten, am Leben erhalten werden könnte.

So ist nun das Ende einer Legende besiegelt: Auf einen letzten, einladenden Zuruf des gleichsam verabschiedeten Künstlerischen Leiters versammelte sich Anfang April noch einmal der harte Kern von bis dato festangestellten Autoren, Regisseuren, Dramaturgen zu einem Abschlußfest wie zu einer Dampferfahrt. Nur wollte das Schiff, anders als bei Fellini, nicht mehr ablegen: Die Veranstaltung fand im Filmmuseum statt... Ein merkwürdig nostalgischer Leichenschmaus, denn das berühmte deutsche Gesellige hatte man in den Kämpfen der Zeit, wie übrigens auch die Zeit selbst, zu sehr außer acht gelassen. Das Durchschnittsalter der Versammelten reichte zwar nicht ganz an das des verjagten SED-Politbüros heran, beschrieb aber ein letztes Mal drastisch die versäumten Zukunftsoptionen dieses schwerfälligen Systems (nicht nur Defa), das auf rein biologischen Wechsel, sprich Nachwuchs, setzte. Dieser „Nachwuchs“ begann mit Ende 30, dann kam eine Weile nichts, und so überwiegen die Vorruheständler.

In einer kurzen Rede, prägnant wie Jahre nicht, bekannte sich (!) Rudolf Jürschik, seit 15 Jahren Chefdramaturg beziehungsweise Künstlerischer Direktor, sichtlich gezeichnet von den „Wirbeln unserer Zeit“, zu seiner Geschichte im Amt, zu seinen Taten und auch Untaten, sprich: Tatenlosigkeiten. Er „wagte“ es sogar, bei Marx zu bleiben, ihn zu zitieren und nicht von Weizsäcker oder Schäuble. Sein nachgetragenes Bekenntnis hilft zwar heute keinem mehr, ist also ein schwacher, vielleicht zu später Trost. Aber solch ein Geständnis ist, in einer Landschaft, wo fast jeder seine „eigentlich schon immer“ bürgerliche Herkunft und erst recht bislang unterdrückte oppositionelle Haltung opferbereit ausstellt, eine schier unglaubliche Seltenheit, die von den ehemaligen Kollegen Untergebenen entsprechend wach und mit Respekt vernommen wurde.

Die Dokumentarfilmer feierten ihr Ende der Festanstellung nicht weniger symbolträchtig mit einem Austritt in die Wirklichkeit, auf die Straße vor dem Studio in Ostberlin. Vielleicht hatten sie damit schon immer weniger Probleme als die mit Fiktion und Atelierpappe operierenden Babelsberger Kollegen. Hier gab es keine Ansprachen, man stand im Regen, im Wind. Aus dem obersten Stockwerk hingen aufgespulte Filmrollen und Magnetbänder auf die Erde herab, auf den Boden der Tatsachen? Filme wurden auf die gegenüberliegende Häuserwand projiziert. Auch hier glänzte der alte/neue Arbeitgeber durch Abwesenheit.

So ist die Tafelrunde deutscher Filmförderung sprunghaft größer geworden, nur der Kuchen, um den sich alle drängeln, blieb bislang gleich (klein), für die Dok-Filmer, wie sie in der DDR hießen, wohl erst recht. Vielleicht hat man sie deshalb mit entschieden besseren Abschiedsgehältern zum Arbeitsamt geschickt als die Spielfilmer.

Am besten haben es da noch die „willigsten Filmschaffenden aus der alten DDR“ getroffen, die auch früher nie viel Aufhebens um ihre Arbeit machten: Neulich traf ich am Diskettenwühltisch eines Westberliner Elektronikladens einen Kommilitonen, den ich seit dem Studio nie wieder gesehen habe — so gründlich war er abgetaucht im unpopulärsten, dafür bestausgerüsteten Filmstudio (der NVA), das den Soldaten mit Ausbildungsfilmen gründlich die Hirne und Herzen perforierte. Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam zu vermuten, daß es ihm heute besonders dreckig gehen muß, und fragte ihn vorsichtig wie einen Krebskranken nach seinem Befinden. Weit gefehlt: „Wir heißen jetzt Projektfilm.“ „Na, und was macht ihr da?“ „Wir kriegen unsern Sold vom Bund.“