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Ödipus für die Volkshochschule

■ „Der Fall Ö.“ — ein Film von Rainer Simon

Die Helden aus den DEFA-Filmen von Rainer Simon prägte stets eine Eigenschaft: der massive Unwille, die Realität zu sehen, egal, zu welcher Zeit und wo sie lebten. Vor der „gewonnenen Freiheit“ mochte das als verschlüsselte Opposition des Regisseurs gedeutet werden. Wie sieht dasselbe Muster nun „danach“ aus? In Der FallÖ. soll ein Mythos als Spiegel für Verhaltensweisen einer gar nicht so fernen Vergangenheit dienen, diese wiederum als Matrize für die Gegenwart. Deutsche Soldaten streifen 1944 in Griechenland weiße Gewänder der Antike über ihre Uniformen, deren Interpreten legen 1990 ihre Jeans ab: ein Maskenball jenseits der „Echtzeit“ — die Verkleidungen sollen Substantielles entblößen. Mit Spiel jedoch hat das wenig zu tun, eher mit einem hölzernen Lehrbuchexempel. Die Amateure aus der Wehrmacht inszenieren zum Zeitvertreib einen 8-mm-Film, der dann auch als Film im Film vorgeführt wird, natürlich ambitioniert geschnitten und auf 35 mm gedreht.

Es geht um Ödipus und die Schuldfrage der Unwissenden, der blinden Sehenden, die zu durchblickenden Blinden werden sollen. Ich will nicht erinnern müssen, wofür der FallÖ. schon alles hergehalten hat — bei Freud, Joyce, Lacan, auch Loriot... Gleichwohl: Einfacher als Rainer Simon hat es sich keiner gemacht. Der hellenische Mythos geht bei ihm einen langen Weg — via Äschylos (Text), Fühmann (Novelle), Ulrich Plenzdorf (Drehbuch) und die Didaktik der DEFA-Dramaturgie (ihre beharrlichsten Kanons). Die Sinnlichkeit einer prächtigen Landschaft, Originalschauplätze von Delphi und Theben, mit echten Oliven und blauem Dunst sollen diesen langen, öden Weg vergessen machen. Und Roland Dressel sucht krampfhaft durch akrobatische Verrenkungen der Kamerastandpunkte die unerträgliche Statik, ja Statuarik der Arrangements zu lockern. Doch der gedankliche Stillstand kann weder durch übermäßiges Zoomen noch mit der Handkamera aufgehoben werden. Wie ein Volkshochschullehrer bringt der Hauptmann, Regisseur des Amateurfilms, dem in griechischer Mythologie unkundigen Gefreiten die Ödipus- Geschichte bei. Der naive, mit weit aufgerissenen Rehaugen markierte Gefreite Ödipus begreift dieses Schicksal als Kriminalfall. Der rohe Feldwebel (Kreon) kommentiert es aus der Alltagsperspektive. Solche Interpretation und die beabsichtigten Spiegelungen wirken merkwürdig platt. Die Schuld(frage) der Nichtwissenden — seien es Nazis, Panzerfahrer in Prag '68, Afghanistan-Soldaten oder inoffizielle Stasi-Mitarbeiter — kommt in dem angestrengten Nachhilfeunterricht für den Zuschauer gar nicht erst auf. Dem wird statt dessen 90 Minuten lang erklärt, wie nun genau die Ödipus- Geschichte als Fabel ablief, allerdings unter sorgfältiger Tilgung von Irrationalität, Dunkelheit, Sinnlichkeit und „unästhetischen“ Momenten. Die auf dramaturgische Logik und Motivationen bauende Filmerzählung zerstört den Mythos, da dessen Hauptkraft, das Schicksal, keine Logik kennt. Das Geschichtsbewußtsein wird in verwischten Andeutungen aufgehoben.

Diese Novelle wurde schon einmal (1972) vom DDR-Fernsehen verfilmt, damals schrieb ihr Autor Fühmann das Drehbuch selbst und bezog es auf den 20. Juli 1944, der Dramaturg wiederum assoziiert den Einmarsch in Prag. Damals begriff sich der Hauptmann als Ödipus und schoß sich die Augen aus. Dieses naturalistische Detail paßte nun wenig in den ebenmäßig schönen Simon- Film und fiel weg. Außerdem wird hier keiner sehend, wozu dann also blind werden? Als grundlegend Unwissender fungiert der Zuschauer, und was sieht dieser letztendlich? Eine inhomogene Schauspielertruppe, in der vieles tatsächlich amateurhaft anmutet, eine ermüdend dynamische Kamera und starre Regielösungen. Dafür sind die Farben abgestimmt: Oliven, der Dunstschleier, Khaki-Uniformen, bronzene nackte Männerkörper. Weil aber das alles bereits in den ersten zehn Minuten präsentiert wird und später kaum etwas hinzukommt, kann man getrost in der Landschaft aufgehen — sie wenigstens ist echt und suggeriert, daß Griechenland kein Land nur aus der Kunstgeschichte ist, auch kein imaginäres mehr hinter der Mauer, sondern durchaus sinnlich zu erleben, nicht nur als Kulisse für die Äschylos-Tragödie oder Antifa-Fabel. Unwillkürlich wird Der FallÖ. zum ausgedehnten, verstiegenen Werbespot für ein Urlaubsparadies.

Am Ende fallen Schüsse: Der eingeschläferte Zuschauer erwacht. Er schafft es gerade noch, den Abspann zu lesen, sonst hat er nichts verpaßt. Nur der Bonus eines elitären intellektuellen DEFA-Regisseurs, den Rainer Simon in der DDR wie abonniert genoß, scheint mit einem Mal gründlich zerstört. Oder war es ein Mythos? Oksana Bulgakowa

Rainer Simon: Der FallÖ., Drehbuch: Ulrich Plenzdorf (nach einer Novelle von Franz Fühmann), Kamera: Roland Dressel, mit Matthias Habich, Sebastian Hartmann, Tatiana Lygari; DDR/ Deutschland 1990, 95 Min.

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