Herr Stahl, übernehmen Sie!

■ Furchtbarer Verdacht: Jenninger-Rede ein Werk der Stasi

Berlin (taz) — Anfang der 80er Jahre ließ sich der damalige Staatsminister in Kohls Kanzleramt, Philipp Jenninger, von seinem Referenten Thomas Gundelach zuarbeiten. Daß dieser sich, wie jetzt von ihm selbst bestätigt, gelegentlich mit dem Ehepaar Schalck-Golodkowski traf, dabei „vertrauensvoll Probleme erläutert und auch Dokumente übergeben“ hat, mag Spionage gewesen sein oder nicht. Es ist verjährt. Allerdings prüft der Generalbundesanwalt, ob Gundelach auch „in nichtverjährter Zeit für die DDR arbeitete“.

Ermittelt werden muß auch dann, wenn man Männern und Frauen wie ihm später vielleicht nationale Verdienste zuschreiben wird. Es war doch richtig, so wird man in 30 Jahren möglicherweise feststellen, den Niedergang der DDR so lange zu verzögern, bis die sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitiker den Zusammenbruch ihres kleinen Bruders im Westen wenigstens einigermaßen gelassen hinnehmen konnten. Dieses notwendige Etappenziel förderten Franz Josef Strauß, Erich Mielke, Erhard Eppler und einige hochkarätige Stasi-Kundschafter ebensolange in unbewußter Kongenialität, bis sich der geschichtliche Prozeß — gewissermaßen hinter ihrem Rücken — auf die nächst höhere Stufe schwingen konnte, Deutschland einig Vaterland...

Diese Überlegungen dürfen den Generalbundesanwalt nicht interessieren. Dem Vernehmen nach geht es im Fall Gundelach inzwischen um einen zweiten Tatkomplex: Als Jenninger 1984 Bundestagspräsident wurde, folgte ihm G. als Berater. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur war es Gundelach, Vertrauensmann des Stasi-Offiziers Schalck-Golodkowski, der 1988 die berühmte Rede entwarf, die Jenninger damals am 11. November zum 50.Jahrestag des Judenpogroms von 1938 hielt und die zu seinem Rücktritt führte. Damit scheint festzustehen, daß die damalige Rede vom „Faszinosum“ der nationalsozialistischen Anfangserfolge kein westdeutsch-reaktionärer Parforce-Ritt durch die Vergangenheit war. Vielmehr handelte es sich um eine wohlerwogene deutsch-deutsche Gemeinschaftstat.

Gundelach mag es gewesen sein, der Jenninger dazu ermunterte, das Manuskript leiernd zu rezitieren und der Rede mittels einer verfremdenden Betonung einzelner Passagen dem Redestil Erich Honeckers anzugleichen. Damit konnte im November 1988 erreicht werden, daß die DDR-Führung aus dem vergangenheitsrhetorischen Nachhinken, in das sie Richard von Weizsäcker am 8.Mai 1985 abgedrängt hatte, wieder herausfand. Außerdem hatte Jenningers jähe Lust an einer „großen Rede“ damals dazu geführt, daß Heinz Galinski nicht vor dem Bundestag reden durfte, während der Vorsitzende der Juden in der DDR vor der Volkskammer sprach — eins zu null für die damalige DDR. Und haben sich Jenninger/Gundelach damals nicht für die Verteidigung des kleinen deutschen Mannes starkgemacht — ganz auf der Linie der antifaschistischen DDR-Amtskirche?

Mag auch die Geschichte dies einst in die Reihe der schon genannten Verdienste um die Stabilisierung der DDR stellen, so ist doch jetzt im gesamtdeutschen Rechtstaat die Strafverfolgung zwingend geboten: Herr Generalbundesanwalt von Stahl, übernehmen Sie! Götz Aly