: Großes Flüchtlingselend auch im Iran
■ Eine Million Kurden in die Islamische Republik geflüchtet/ Viele wollen Kampf gegen Saddam fortsetzen/ „Die Iraner sind sehr großzügig — aber sie haben nichts, womit sie uns ernähren können“/ Türkei verlegt 20.000 Flüchtlinge ins Tal
Piranchahr/Silopi/Berlin (afp/ dpa/taz) — Allein in Piranchahr, dem nördlichsten iranischen Grenzort zum Irak mit einer Bevölkerung von gerade 30.000 Einwohnern, lagern derzeit rund 120.000 kurdische Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen über die Berge in den Iran geflohen sind. Und jeden Tag kommen über die im Zweiten Weltkrieg von den britischen Kolonialherren gebaute Paßstraße Hamilton Road weitere 20.000 hinzu, erklärte der örtliche Regierungschef Mohamed Siai am Sonntag dem Generaldirektor für Nord-Süd-Beziehungen der EG- Kommission, Juan Pratt, der zu einem Vor-Ort-Besuch in den iranischen Nordwesten gereist war.
Denn während sich das öffentliche Interesse weitgehend auf die kurdischen Flüchtlinge an der türkischen Grenze konzentriert, sind die meisten Bewohner der großen kurdischen Städte Arbil, Kirkuk und Sulaymaniyah nicht in die Türkei, sondern in den Iran geflohen — weil es näher liegt und die Straßen besser sind, aber auch aus politischen Gründen: Zahlreiche Verwandte, die auf der anderen Seite der Grenze leben, berichten von deutlich besserer Behandlung der Kurden im Iran als in der Türkei. Und anders auch als die Türkei hat der Iran die Grenzen zum benachbarten Irak praktisch völlig geöffnet. Ausweisdokumente werden den Flüchtlingen nicht abverlangt, eine grobe Zählung der Grenzübertritte scheint alles.
Die Situation der Flüchtlinge im Iran ist gleichwohl dramatisch. „Die Iraner sind sehr großzügig“, erklärt ein Sprecher der Demokratischen Partei Kurdistans, „aber nachdem sie uns ins Land lassen, haben sie nichts, womit sie uns ernähren können.“ Die Hilfsbereitschaft der im Iran ansässigen Kurden ist groß, aber sie sind arm und angesichts der Zahl der Flüchtlinge hoffnungslos überfordert. Und von internationaler Hilfe ist in Prianchahr bislang weit und breit nichts zu sehen, berichtet der Korrespondent des britischen 'Guardian‘ vor Ort, David Hirst.
Der örtliche Regierungsvertreter erläuterte der EG-Delegation auch, daß die irakische Armee einen breiten Streifen vor der iranischen Grenze vollständig geräumt und die Kontrolle den kurdischen Rebellen überlassen habe. Viele Flüchtlinge erzählen übereinstimmend, daß immer noch große Teile Irakisch-Kurdistans in den Händen des Widerstands sind und sich die Regierungstruppen vor allem die großen Städte und deren Umgebung kontrollieren. Etliche der kurdischen Männer bringen auch nur ihre Familien über die Grenze in Sicherheit und kehren dann in den Irak zurück, um in den Reihen der kurdischen „Peschmergas“ gegen die Regierungstruppen zu kämpfen, berichtete BBC aus der Grenzregion.
Die Gesamtzahl der Flüchtlinge aus dem Irak bezifferte das iranische Innenministerium am Sonntag auf 940.000, allein fast die Hälfte davon in der nordiranischen Grenzprovinz Westaserbaidschan. Die amtlichen Schätzungen sprechen von einer halben Million Menschen, die noch unterwegs sind in Richtung der iranischen Grenze. Berichte sprechen von Flüchtlingskarawanen bis zu 80 Kilometer Länge im Irak.
Die Flüchtlingskommissarin der UNO, Sadako Ogata, ist nach ihrem Besuch im Iran am Wochenende nun in die Türkei weitergereist. Dort wurde gestern begonnen, in Silopi im südostanatolitischen Flachland ein Sammellager für 20.000 kurdische Flüchtlinge einzurichten, nachdem die Regierung in Ankara am Wochenende dem internationalen Druck nachgab und den zumindest teilweisen Abstieg der kurdischen Flüchtlinge aus den eisigen Bergen der Grenzregion erlaubte. In Silopi warten im Rahmen der „Operation Provide Comfort“ der US-Armee bereits rund 150 Soldaten und 50 Lastwagen mit insgesamt 35 Tonnen Hilfsgütern auf die Flüchtlinge. Um aus ihren elendigen Notlagern in den Bergen in das ummauerte Lager im Flachland zu gelangen, müssen diese jedoch noch rund 100 Kilometer überwinden. Die Regierung in Ankara betonte erneut, daß es sich bei diesem und möglichen weiteren Lagern in jedem Falle nur um Provisorien handele und die kurdischen Flüchtlinge möglichst bald in ihre Heimat zurückkehren sollten. beho
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