: Krisentelefon in der Krise
■ Immer mehr krisengeschüttelte OstberlinerInnen melden sich bei »Telefon des Vertrauens«
Mitte. Wer hat denn hier die größere Macke? Diejenigen OstberlinerInnen, die krank vor Existenzangst beim »Telefon des Vertrauens« anrufen, oder der Senat, der in der tiefsten Krisenzeit diese wichtige psychosoziale Einrichtung so nicht mehr weiterführen will?
Jeder dritte befragte Ex-DDRler, so das Ergebnis einer Studie des Berliner Wissenschaftszentrums, findet das Leben mittlerweile »so kompliziert, daß man sich nicht mehr zurechtfindet«. Also greifen viele zum Telefon und wählen die (Ost-)Nummer 4377002. Im Gegensatz zur westlichen Telefonseelsorge sitzen hier Fachleute am anderen Ende der Leitung. 43 auf Honorarbasis arbeitende Ärzte und Psychologen und sechs Hauptamtliche hören zu. Sie vermitteln, wenn nötig, sofort einen Termin bei der Krisenberatung in denselben Räumen der Mollstraße oder brechen zu Hausbesuchen auf.
»Die Problemhaftigkeit und Schwere« der Telefonate habe in letzter Zeit extrem zugenommen, so der Psychologe und Vizechef Dr. Jörg Richter. Die Hauptleidtragenden der ökonomischen Krise, so glaubt auch er, seien die Frauen. Vor allem die ab 40, die in den Augen der Behörden für den Ruhestand zu jung und eine Umschulung zu alt seien: »Denen brechen alle Lebensperspektiven weg. Die Hoffnungslosigkeit, Resignation und Aggression in den Familien überträgt sich natürlich auch auf die Kinder.« Bezeichnend sei auch, daß in diesem und dem letzten Jahr vielmehr Ratsuchende als 1988 und 1989 handfeste psychosomatische oder gar psychotische Symptome zeigten. Auch »suizidale Krisen« hätten sich fast verdoppelt.
Doch nun haben die Mitarbeiter selbst die Krise. Erstens: Die Finanzierung bis Ende 1991 wurde ihnen zwar weiland noch vom Magistrat zugesagt, eine entsprechende Aktennotiz ist aber nirgends zu finden. Folgt zweitens: Im Berliner Nachtragshaushalt wurde das Krisentelefon anscheinend nicht berücksichtigt. Und drittens: Seit Januar haben die auf Honorarbasis arbeitenden Mitarbeiter kein Honorar mehr erhalten. Und viertens und überhaupt: Das »Telefon des Vertrauens« soll auf keinen Fall als kommunale Einrichtung weitergeführt werden, befand Gesundheitssenator Peter Luther (CDU), sondern sich einen freien Träger suchen. Schließlich, so führte er im 'Berliner Kurier‘ aus, sei das »Telefon« 1987 »auf Weisung des ZK der SED« eingerichtet worden. »Genauso wie die Jugendzahnpflege und der Seuchenschutz«, kontert Psychologe Richter wütend. Die dortigen Psychologen seien »durch die Schule der SED gelaufen«, so der Senator. »Unglaublich« findet der Psychologe diese Behauptung. Obwohl damals »ein Dutzend Aufpasser« ohne fachliche Ausbildung miteingestellt worden seien, habe man unter 50 Leuten gerade mal »fünf bis sieben SED-Mitglieder« gehabt.
Hatte vielleicht auch der Senator eine Krise? Den Satz will er inzwischen so nicht mehr gesagt haben. Der habe sich nur auf die eingestellten Aufpasser bezogen, so seine Sprecherin. Die Krisensymptome scheinen dieses Mal wenigstens demokratisch verteilt. Ute Scheub
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