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GEGENREDEEin formierter Schwur auf die Marktkräfte

■ Professor Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Bremen und Mitglied der „Memorandum-Gruppe“ für wirtschaftspolitische Gegen-Gutachten, kritisiert für die taz die „Fünf Weisen“

Der Zeitpunkt der Vorlage eines Sondergutachtens durch den per Gesetz verordneten „Rat der Fünf Weisen“ überrascht kaum. Vor allem unter dem massiven Druck der materiellen Krise in Ostdeutschland hat die Bundesregierung, wenn auch viel zu spät, einen Kurswechsel ihrer Politik vollzogen. Mit wichtigen Maßnahmen erfolgte seit Anfang dieses Jahres der lautlose Abschied von den Einigungsdokumenten des letzten Jahres. Die Hoffnung des Staatsvertrags, des Einigungsvertrags und des Imports der westdeutschen Währung zum 1.Juli 1990, mit „Mark und Markt“ aus dem Zusammenbruch des Produktionssystems der DDR ein ostdeutsches Wirtschaftswunder zu zaubern, wurde höchstpersönlich durch den neuen Bundeswirtschaftsminister zu Grabe getragen. Der klare Konzeptionswechsel der Bundesrepublik ist durch die folgenden Aktivitäten gekennzeichnet:

Das „Gemeinschaftswerk: Aufschwung Ost!“, das für zwei Jahre insgesamt 24 Mrd. DM vorsieht, beinhaltet einerseits ein öffentliches Investitionsprogramm. Dies dient vor allem der Stärkung der Kommunen in den fünf neuen Bundesländern. Andererseits werden damit die Mittel für projektbezogene Überbrückungsmaßnahmen der Arbeitsmarktpolitik deutlich erhöht. Dahinter verbirgt sich die späte Einsicht, daß in der Phase des Umbaus kaum neue Arbeitsplätze gegenüber der massenhaften Vernichtung von Beschäftigungsmöglichkeiten über Jahre entstehen werden.

Die ordnungspolitische Naivität des Einigungsvertrages, die Neugestaltung der Eigentumsverhältnisse nach der in Westdeutschland herrschenden Rechtspraxis vorzunehmen, wurde endlich wenigstens zum Teil überwunden. Zumindest für zwei Jahre wurde der Entschädigung für Eigentum gegenüber dessen Rückgabe Vorrang eingeräumt. Vor allem „Wessis“, die das bereits Ende der vierziger Jahre verlorene Eigentum zurückerhalten wollten, drohten zu der wirksamsten Investitionsbremse zu werden. Dieser Entwicklung ist nun entgegengewirkt worden.

Anfang März erklärte die Bundesregierung unter dem Regime der schweren Anpassungskrise, die Treuhandanstalt solle nicht nur privatisieren, sondern Unternehmen unter Nutzung von mehr Zeit in die Überlebensfähigkeit sanieren. Der Staat müsse dann auch den Mut haben, in dieser Phase Unterstützung zu leisten.

Dieser Kurswechsel der Bundesregierung kommt zu spät, er ist noch viel zu zaghaft, weist jedoch in die richtige Richtung. Die tiefe Anpassungskrise hat zumindest im praktischen Handeln marktideologische Barrieren beim Umbau der Wirtschaft in Ostdeutschland reduziert. Dem sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biendenkopf ist zuzustimmen, wenn er als Macher vor Ort zugespitzt formuliert: Eine gespaltene Wirtschaftsentwicklung verlangt auch für die neuen Bundesländer eine völlig andere Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik. Mit den Instrumenten der ökonomisch reichen, jedoch ökologisch faulen Wirtschaft Westdeutschlands läßt sich der Aufbau Ostdeutschlands nicht bewerkstelligen. Für eine Phase der Transformation bis Ende dieses Jahrtausends ist eine umfassende Struktur- und Wirtschaftspolitik erforderlich.

Mitten in die jüngste Entwicklung einer Verständigung über eine aktive Auf- und Umbaupolitik knallt der „Rat der fünf Weisen“ dieses Sondergutachten in die Öffentlichkeit. Der Titel dieses Sondergutachtens gibt Auskunft über das vorgeschlagene Anti-Programm: „Marktwirtschaftlichen Kurs halten!“. Der Druck der ökonomischen Krise könne — so die „Sorge“ der „fünf Weisen“ — das marktwirschaftliche Regelwerk verdrängen, gefordert wird deshalb ein totaler Verzicht auf eine aktive Struktur-, Industrie- und Umweltpolitik zugunsten eines Schwurs auf die selbstheilenden Marktkräfte.

Dabei hatte dieser Rat noch im Februar 1990 den Bundeskanzler in einem langen Brief vor den katastrophalen Wirkungen des DM-Imports gewarnt. Anstatt jedoch die Crash- Folgen zu untersuchen und daraus eine Auffangstrategie aufzubauen, fällt dieser Sachverstand jetzt wieder auf die althergebrachten Positionen zurück. Ob Ost oder West, Süd oder Nord, wo sich auch immer wirtschaftliche Probleme zeigen, da muß die Marktwirtschaft mit ihrem Gewinnkonzept die Heilung besorgen.

Der Flächenbrand Arbeitslosigkeit wird in dem Gutachten zwar gesehen: 1,7 Millionen registrierte Arbeitslose und 2 Mill. Kurzarbeiter bis zum Ende dieses Jahres. Zwischen den Zeilen wird auch zu erkennen gegeben, daß vor allem Frauen vom Verlust ihrer existentiellen Grundlagen getroffen sind. An die Stelle einer aktiven Politik zur Überwindung dieser Krise treten jedoch marktwirtschaftliche Versprechungen. Dabei käme es doch darauf an, überhaupt erst marktwirtschaftliche Bedingungen zu schaffen, etwa durch den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur sowie einer sozialen Abfederung. Es grenzt an Unverantwortlichkeit, wenn die betroffenen Menschen, ohne dies genau zu belegen, auf einen marktwirtschaftlich ausgelösten Aufschwung in der Zukunft vertröstet werden.

Die Wirtschaftswissenschaft hat sich im Prozeß der deutschen Einigung schon mehrfach blamabel gezeigt. Der „Rat der fünf Weisen“ muß sich jetzt vorwerfen lassen, den Kern dieser flächenweiten Transformationskrise nicht begriffen und deshalb falsche Vorschläge unterbreitet zu haben. Jetzt geht es um die Angleichung der Lebensverhältnisse, die sich nicht mit den Instrumenten der westdeutschen Wirtschaftspolitik bewerkstelligen lassen. Nicht die Reproduktion von Lehrbuchweisheiten, sondern schöpferischer Mut ist verlangt. So muß etwa dafür Sorge getragen werden, daß die Finanzleistungen aus Westdeutschland auch in Ostdeutschland zur Produktion führen. Das heißt vor allem, daß Finanzdienstleistungen mit der Auflage verbunden werden müssen, in Ostdeutschland auch Produktion anzuregen. Dem Sachverständigenrat wäre zu empfelen, sich vor Ort die ökonomischen, ökologischen, sozialen und administrativen Probleme anzuschauen und dann noch einmal erneut zu gutachten. Obwohl es der Wissenschaft insgesamt schadet: es bleibt zu hoffen, daß dieses Gutachten in der Politik so behandelt wird, wie es behandelt gehört, nämlich gar nicht!

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