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Der neue Reiz aus Tonmaschinen

■ Bremer ZeM-Club stellte sich vor: Elektronische Musik sucht noch ihr Publikum

Im Kultursaal der Angestelltenkammer rauscht es gewaltig. Krach wie an einer großen Straßenkreuzung; ein Rauschen, das gleichbleibt und sich doch jeden Moment wieder anders anhört.

Leicht scheint es irgendwo zu vibrieren. Einer zieht an einer langen Schnur ein Brett über das Pflaster. Die metallenen Räder einer Straßenbahn knirschen schwer in den Schienen. Jemand scheint einen Laut hineinzurufen, kein Wort, aber vielleicht eine Stimme.

Kann Rauschen „verschieden“ rauschen, in sich differenziert? Es kann. 18 Minuten auf CD. Nicht die Verkehrsarbeitsgruppe tagt, sondern ein Kreis, der sich über elektronische Musik informieren läßt. „Vom Übersetzen über den Fluß“ hat der Komponist Johannes Göbel sein Stück genannt.

„Beschreibungen reduzieren immer das Hören“, sagt der Komponist und Hochschullehrer Erwin Koch-Raphael. Jeder hat seine eigenen Assoziationen, durch die Assoziationen entsteht in den HörerInnen erst die Musik. „Deutung ist ein selbständiger schöpferischer Akt des Hörens“, erklärt der Hochschullehrer.

Es ist das erste Mal, daß der kleine Kreis derer, die in Bremen eine Öffentlichkeit für elektronische Musik schaffen wollen, sich in der Reihe „Projekt Neue Musik“ vorstellt. Die Hörgewohnheiten der Bremer Musik-Szene haben sich auf die neuen Klänge noch nicht eingestellt, kaum 20 interessieren sich an diesem Abend für das Thema. Georg Sichma, Student der Musik und der Physik, gibt einen Überblick über die Geschichte der mechanisch-elektrischen „Musikmaschinen“; die erste um 1900 war 200 Tonnen schwer. „Nichts ist reizvoller, als Neues für's akustische Wahrnehmungsfeld zu erschließen“, findet der Physik- Student. Die klassische melodische Musik gibt es hinreichend, kein Bedarf an einer reinen Vermehrung, erklärt der Komponist sein Streben nach dem „Neuen“.

Die Akteure der neuen Computermusik, die sich im „Zentrum für elektronische Musik“ (ZeM) zusammengetan haben, sind an zwei Händen zusammenzuzählen. Es sind Studenten verschiedener Fakultäten vor allem, Musiker, Biologen, Informatiker, aber auch ein gelernter Koch und ein ehemaliger Börsenmakler sind dabei. Die beiden letzteren sind Franzosen — in Deutschland ist das Interesse an elektronischer Musik tragisch unterentwickelt und das theoretische Interesse der Kultur-Rezensenten fehlt immer noch, obwohl der WDR mit Stockhausen in den 50er Jahren einmal führend war, beklagt Koch-Raphael.

Der Vorsprung ist längst an Paris und Mailand abgegeben. Die Entwicklung war rasant — „da kamen die Theoretiker nicht mit, jedenfalls die deutschen“. Vielleicht hatte die 'Kritische Theorie– hierzulande mit ihrer Skepsis gegen die fremde Rationalität der Technik die spielerische Lust an den Möglichkeiten der Computer gebremst.

Von der Pädagogischen Hochschule Freiburg (Prof. Weinholt) ging 1990 der erste Impuls aus, die geringen Kräfte zusammenzuführen. Koch-Raphael bewegte dasselbe Motiv: Wenn heute die Musikstudenten nicht das Instrument Computer bedienen lernen, wird es in zehn Jahren immer noch keinen zeitgemäßen Musik- Unterricht geben können.

Aber auch den Komponisten Koch-Raphael beschäftigt dieses neue Instrument. Die klassischen Instrumente sind von der handwerklichen Bauart in ihren Klangformen festgelegt, die meisten Freiheiten der Tonformung erlaubt noch die Geige, findet er. Das Klangspektrum des Computers ist unendlich — man muß die Maschinen nur zu bedienen wissen.

Der gelernte Tonmeister Koch-Raphael hat sich in die Geheimnisse der Musik-Computer eingefuchst. Demnächst wird er einen Koffer auch in Karlsuhe haben und dort arbeiten. In Karlsruhe entsteht ein 20 Millionen- Projekt, „Zentrum für Kunst- und Medientechnologie“, und in dessen Musik-Abteilung ein Kompositionscomputer, der das 10 Jahre alte und also längst veraltete IRCAM um Pierre Boulez in Paris ablösen wird. In Bremen leben einige Produzenten von Computermusik, neben der universitären Szene gibt es den eher in der Popularmusik mit kommerziellem Erfolg produzierenden Michael Weisser oder etwa Jan Ostendorf, der auch durch Filmmusik bekannt wurde.

Aber daß Bremen die Chance nutzt und an der Hochschule der Künste einen Schwerpunkt finanziert, wagt Koch-Raphael nicht zu hoffen. So wird er demnächst seinen Schlafsack packen und seine Hoffnung auf Karlsruhe richten. K.W.

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