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„Wir haben ja nichts zu verlieren“

Im ärmsten Land der Welt herrscht Endzeitstimmung. Äthiopiens Militärherrscher Mengistu mobilisiert seine letzten Reserven, um den Vormarsch der Guerilla zu stoppen. Bewaffnete Widerstandsbewegungen haben die Kornkammer des Landes unter Kontrolle. Werden sie in Addis Abeba die Macht übernehmen? Oder steht Äthiopien ein unkontrollierbarer Zerfall bevor?  ■ Von Bettina Gaus

Auf den ersten Blick wirkt Addis Abeba wie die Hauptstadt eines Landes, das sich im tiefsten Frieden befindet: Geschäfte bieten von der Stereoanlage über das golddurchwirkte Baumwolltuch bis zu edlem Schmuck und Delikatessen an, was verwöhnter Geschmack verlangt. Wasser- und Elektrizitätsversorgung funktionieren ebenso reibungslos wie Telefon- und Telexleitungen. Die stilvollen Restaurants der äthiopischen Hauptstadt sind mit elegant gekleideten Gästen gut besetzt. Tischreservierung empfiehlt sich.

Vor einigen Wochen ist den Angehörigen der in Addis Abeba arbeitenden westlichen Ausländer geraten worden, wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage vorübergehend das Land zu verlassen. „Ich halte das für völlig übertrieben“, sagt ein Ingenieur, der von seiner Organisation gerade erst nach Äthiopien entsandt worden ist. „Meine Frau ist jetzt hier zu Besuch, und wir werden in einigen Tagen entscheiden, ob wir unseren gesamten Hausrat hierher bringen.“ In den Botschaften wird nicht so locker dahergeplaudert. „Natürlich haben die Amerikaner mit diesem Schritt auch eine politische Absicht verfolgt. Sie wollen das Regime von Mengistu weiter destabilisieren“, meint ein westlicher Diplomat. „Das Problem ist nur: Über kurz oder lang kippt die Regierung tatsächlich, und keiner kann vorhersehen, wann das passiert und wie blutig das verlaufen wird.“

Es kann noch Monate dauern, bis sich am gegenwärtigen Schwebezustand etwas ändert — der Sturz von Präsident Mengistu Haile Mariam kann aber auch eine Frage von Tagen sein. Dem Mann, der 1977 durch eine Palastrevolution an die Macht kam, sind keine Verbündeten mehr geblieben: Die Sowjetunion, die ihm half, 1978 den Ogaden-Krieg gegen das Nachbarland Somalia zu gewinnen und die im Laufe der Jahre Militärhilfe im Wert von mehr als zehn Milliarden US-Dollar nach Äthiopien gepumpt hat, hat ihre Militärberater abgezogen. Vor zwei Wochen soll das endgültig letzte sowjetische Schiff mit Waffen an Bord angekommen sein — damit sind alle Verpflichtungen aus dem in diesem Jahr auslaufenden Militärhilfeabkommen erfüllt. Dabei bräuchte das Regime in Addis Rüstungsgüter heute dringender denn je. Der Krieg gegen die verschiedenen Widerstandsbewegungen verschlingt inoffiziellen Schätzungen zufolge mehr als 60 Prozent des Staatshaushaltes.

Vor einem Jahr versuchte Äthiopiens Präsident das Steuer herumzureißen: Er kündigte tiefgreifende Wirtschaftsreformen in seinem Land an, das laut Weltbankbericht der ärmste Staat der Erde ist. Aber der Kurswechsel kam zu spät — die erhoffte westliche Hilfe blieb aus. Einzig Israel soll dem Vernehmen nach Gewehre liefern, um den arabischen Einfluß in der Region zu schwächen — immerhin unterstützen Sudan, Libyen und Syrien die Gegenseite. Auch will Tel Aviv auf diese Weise äthiopischen Juden Ausreisegenehmigungen verschaffen.

Die Lebensbedingungen der armen Bevölkerungsmehrheit haben sich in den letzten Monaten dramatisch veschlechtert. Der Preis für das Grundnahrungsmittel Teff, aus dem die riesigen dünnen Brote gebacken werden, die zu jeder warmen Mahlzeit gehören, ist von 90 Birr für 100 Kilo auf 190 Birr hochgeschnellt. Bis vor wenigen Wochen hatten die Einwohner von Addis das Recht, in den „Kebale“-Läden der Regierung 10 Kilo Zucker und zwei Stück Seife einmal monatlich zu stark subventionierten Preisen zu kaufen — jetzt sind diese Rationen halbiert worden. Jeden Tag sind überall in der Stadt lange Schlangen von Frauen zu sehen, die über Stunden hinweg darauf warten, Kerosin zu ergattern, das sie zum Kochen benutzen können. Die mageren Rationen reichen nicht hin und nicht her — und auch die Preise für Holzkohle haben sich pro Sack von 40 auf 80 Birr verdoppelt. Die schmalen Einkommen aber sind unverändert niedrig. Ein Tagelöhner verdient am Tag zwischen zwei und drei Birr.

Ruhe vor dem Sturm

Viele der zerlumpten, bettelnden Kinder in den Straßen von Addis sind unterernährt. Sie haben Hunger. „Für mich ist die Hauptstadt selbst eine der Hungerregionen des Landes“, sagt ein äthiopischer Lehrer. „Die Leute hier sind in steigendem Maße beunruhigt. Früher haben sie die Probleme für vorübergehend gehalten, jetzt reden sie immer offener davon, daß es kontinuierlich bergab zu gehen scheint. Die Ruhe jetzt könnte die Ruhe vor dem Sturm sein.“ Viele, die es sich leisten können, versuchen das Land zu verlassen: Vor den westlichen Botschaften sammeln sich Trauben von Menschen, die sich um Visa bemühen.

Symbol für die Endzeitstimmung ist die Fülle von Gerüchten, die täglich durch die äthiopische Hauptstadt schwirren. Nichts scheint so unwahrscheinlich zu sein, daß es nicht weiterverbreitet und auch geglaubt würde. Der Vizepräsident soll umgebracht worden sein: Drei Tage später nimmt er an einer öffentlichen Veranstaltung teil. Mengistus Familie, hört man, ist bereits außer Landes geflohen: Wenig später wird seine Frau beim Einkaufen in Addis beobachtet. Ranghohe Militärs seien exekutiert worden, weil sie sich gegen den Präsidenten gestellt hätten: Da keine Namen fallen, ist das Gerücht schwerlich zu widerlegen.

Fest steht, daß das Regime seine letzten Reserven aufbietet. Vor zwei Wochen verließen 50 Busse mit Studenten die Hauptstadt. Sie sollten an die Front geschickt werden. Ein Diplomat hält diese Rekrutierung für einen schweren Fehler: „Bisher waren im Bürgerkrieg nur arme Leute Kanonenfutter. Wenn jetzt auch die Kinder der Mittelklasse sterben, dann hat Mengistu die ganze Elite hier gegen sich.“

Aber was bleibt dem Präsidenten schon übrig? Riesige Gebiete haben die Widerstandsbewegungen in den letzten Wochen erobert, ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen, darunter fruchtbare Regionen, aus denen Addis bislang sein Getreide bezogen hat. Während die Versorgung der Hauptstadt damit immer schwieriger wird, können die Rebellen sich jetzt mühelos Proviant verschaffen — und sind angesichts kürzerer Versorgungszeit fortzuführen. Nur wenige Tage währte vor knapp zwei Wochen der Kampf um die kleine Stadt Nekemte, 200 Kilometer westlich von Addis. Dann befanden sich Tausende von Regierungssoldaten panisch und ziellos auf der Flucht. Ihre Offiziere hatten die Befehlsgewalt über sie verloren. Würden die Widerstandskämpfer nun auf Addis zumarschieren? Die Frage war Tagesgespräch in der Hauptstadt. Sie taten es nicht: Sie zogen weiter in südliche Richtung und schienen damit all jene zu bestätigen, die ohnehin nicht an einen Einmarsch der Tigreer in Addis glauben.

Denn es sind vor allem die Rebellen der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF), die schon seit Jahren gegen Mengistu und für größere Autonomie kämpfen, die jetzt die jüngsten militärischen Erfolge für sich verbuchen können. Im letzten Jahr hat sich zwar die TPLF mit der „Demokratischen Volksfront Äthiopiens“ (EPDM) zur „Äthiopischen Volksdemokratischen Revolutionsbewegung“ (EPRDM) zusammengeschlossen. Beobachter glauben aber, daß diese Allianz vor allem dem Ziel der Tigreer gilt, nach außen hin als gesamtäthiopische Bewegung auftreten zu können, denn die EPDM spielt im Vielvölkerkampf gegen das Regime in Addis nur eine untergeordnete Role.

Opposition abgewürgt

Ein heftiger Meinungsstreit tobt in der Hauptstadt um die Strategie der erfolgreichen Widerstandskämpfer. Gegenwärtig haben jene Oberwasser, die glauben, Ziel der Guerilla sei es, Addis einzukreisen und der Stadt die Versorgungswege abzuschnüren. Immerhin ist der Norden fast vollständig in der Hand der Rebellen, jetzt haben sie weite Teile des Westens erobert und im Osten und Südwesten kämpfen Angehörige der Oromo, der zahlenmäßig stärksten Volksgruppe Äthiopiens, gegen die Regierung. Einzig die Straße zur Hafenstadt Assab hält Addis am Leben. Auf ihr wird der weitaus größte Teil aller wichtigen Güter transportiert.

„Wenn die Rebellen nicht kommen, machen wir die Revolution selber“, sagt ein Taxifahrer in Addis, „wir haben nichts zu verlieren. Wir können uns ja nicht einmal mehr unsere Kochbutter leisten.“ Auf die Revolte von innen heraus scheinen auch die Widerstandsbewegungen zu hoffen, die angeblich bereits Tausende von Kämpfern heimlich nach Addis eingeschleust haben. Wie so viele Gerüchte, die in der Hauptstadt kursieren, ist jedoch auch diese Information mit Vorsicht zu genießen: Die Nachricht von der angeblichen Infiltration könnte auch vom Geheimdienst lanciert worden sein, der damit Hausdurchsuchungen und Verhaftungen rechtfertigen will.

Wer könnte einen Aufstand in Addis Abeba organisieren? „Es gibt hier keine geordnete Opposition. Die Opposition sind zwei Millionen Individuen.“ Das glaubt der Mitarbeiter einer ausländischen Hilfsorganisation. Mengistu hat sich seiner Gegner in den letzten Jahren brutal und konsequent entledigt. Die Furcht sitzt tief — kein Gesprächspartner, sei er Äthiopier oder Ausländer, will sich mit politischen Äußerungen namentlich zitieren lassen. Nach wie vor wird in äthiopischen Gefängnissen gefoltert. Und es braucht nicht viel, um im Gefängnis zu landen: Der Verdacht, mit den Rebellen zu sympathisieren, reicht aus.

Viele Beobachter warten auf einen Putsch der Armee. Aber auch hier hat Mengistu mit dem eisernen Besen gekehrt. Im letzten Jahr wurden zwölf Generäle hingerichtet, die in einem Schauprozeß für schuldig befunden worden waren, den gescheiterten Umsturzversuch von 1989 geplant zu haben. „Wir alle träumen von einem General, der stark genug ist, Mengistu in einem Tag wegzufegen und schlapp genug, den Rebellen binnen drei Tagen kampflos die Macht zu übergeben“, spöttelt ein Diplomat, „aber es ist schwer vorstellbar, daß solch ein Fabelwesen existiert.“

Wie immer das Ende aussehen wird — unblutig dürfte es kaum verlaufen. Mengistu Haile Mariam ist umgeben von etwa 4.000 glänzend ausgebildeten Elitesoldaten der Präsidentengarde. Ein blutiges Gemetzel auf den Straßen, wie es sich erst zu Jahresbeginn vor dem endgültigen Sturz von Siad Barre in Somalias Hauptstadt Mogadischu abgespielt hat, ist nun auch in Addis nicht auszuschließen.

Allzu unterschiedlich scheinen die Interessen der verschiedenen Gruppierungen des Landes. Ende des letzten Jahrhunderts errichtete das Volk der Amharen seine Vormachtstellung in Äthiopien — es dürfte kaum gewillt sein, die Privilegien widerstandslos an die Tigreer abzugeben. Auch die Oromo, zahlenmäßig das stärkste Volk, wollen sich wohl nicht mehr mit untergeordneten Positionen abspeisen lassen. Völlig offen ist außerdem, ob eine neue Regierung in Addis tatsächlich Eritrea das Recht auf Selbstbestimmung zugestünde oder ob der blutige Kampf im Norden weiterginge.

Und weitgehend rätselhaft sind schließlich und endlich auch die langfristigen Ziele der militärisch so erfolgreichen TRLF. Das starre Festhalten an kommunistischer Terminologie verschafft den Tigreern im Westen keine Freunde. Zwar ist die EPRDF auf einem Kongreß im Januar vorsichtig von der reinen Lehre abgerückt. Sie verfolgt nun eine gemäßigtere Linie, will auch ausländische Investoren ins Land holen und die Kleinbauern nicht in Kooperativen zwingen, sondern ihnen die Möglichkeit geben, ihr Land in Erbpacht zu bewirtschaften. Das aber ändert nichts daran, daß im Programm auch weiterhin viel die Rede ist von „Kapitalisten“ und von den „unterdrückten Volksmassen“ — eine Sprache, die kaum dazu angetan sein dürfte, westliche Aufbauhilfe ins Land zu holen.

Oder sollte eine neue Regierung tatsächlich den Versuch wagen wollen, das bettelarme Land aus eigener Kraft zur Blüte bringen zu wollen? Immerhin wäre Äthiopien nach Ansicht von Landwirtschaftsexperten langfristig durchaus in der Lage, sich selbst zu ernähren. Aber Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Widerstandsorganisationen sind eben auch nach einem Sturz der Regierung nicht auszuschließen, selbst dann nicht, wenn die Tigreer tatsächlich nicht nach der alleinigen Herrschaft in Addis streben sollten — was viele Beobachter hoffen. Die Bewohner von Addis Abeba haben Angst — der Schwarzmarkt der Waffen blüht.

Der angesehene regierungskritische Intellektuelle Professor Mesfin Wolde Mariam hat jetzt öffentlich einen aufsehenerregenden Vorschlag unterbreitet. Er tritt für die Bildung eines Ältestenrates ein, der als Übergangsregierung zwischen Rebellen und Regierung vermitteln soll. „Das eigentliche Problem in diesem Lande ist, daß Diskussionen unterdrückt wurden“, sagt er. „Wir alle tragen die Verantwortung für das, was geschieht.“ Aber die Chancen, daß die Stimme des Ausgleichs Gehör findet, stehen nicht gut.

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