: Schiffsreisen zu Weinbergen
■ Grundrißarbeiten von Hans Scharoun in der Akademie der Künste (West)
Ein geriffelter Plastikvorhang teilt das Foyer der Akademie der Künste (West). Hinter dem milchigen Duschglas muß man über Stege balancieren. Drahtseile hängen wie Takelagen in der Luft. Eine lange Sonnenbank lädt zum Ausruhen ein. Die Wand ist in ihrer gesamten Breite mit rot-schwarzen Wasserstandstabellen verkleidet, auf denen die Höhen und Tiefen einer Lebens- und Arbeitszeit ausgelotet sind.
Der ästhetische Raum läßt sich als Schiffsmetapher begreifen, der die ausgestellten Grundrisse von Hans Scharoun auf einer symbolischen Seereise zeigt. Eingerichtet wurde die Werkstattschau von Architekturstudenten der HdK, die nach einem Seminar mit dem räumlichen Experiment eine assoziative Annäherung an das Werk des Architekten der versuchten.
Ausgangspunkte der Ausstellungsreise sind der Bremer Hafen, an dem Scharoun (1893-1972) zur Welt kam und die expressionistischen Entwürfe des Architekten, dessen früher Stil sich erst allmählich aus dem rechtwinklig geschlossenen Grundriß zu einem freien Entwurf herausbildete. Die Bauten entstehen aus einem inneren Schwerpunkt. Gleichzeitig bilden sie eine skulpturale Raumlandschaft im Innern wie am Äußeren seiner Architekturen, die den Gebäuden eine Dimension der Fliehkraft mitgeben. Die Grundrisse der Privathäuser beispielsweise, die Scharoun zur Zeit des Faschismus in Deutschland baute, da ihm der Zugang zu öffentlichen Aufträgen verwehrt wurde, sind erst tastende, dann immer konsequentere Planungen, die nach außen drängen voll offener und ineinanderübergehender Strukturen. Der Bau selbst wird zum Topos lebendiger Energie.
Scharouns städtebauliche Ideen für das Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg bleiben bis heute ein Zankapfel, sind doch sein Kollektivplan (1946) wie auch der Plan für den Wiederaufbau für Berlin (1957/58) von der modernistischen Vorstellung einer offenen Stadtfigur geprägt. Statt der städtischen Struktur lieferte ihm das Berliner Urstromtal die morphologische Orientierung. Die Architekturen allerdings zählen zu den Raumschöpfungen, die zu exemplarischen Symbolen einer anthropomorphen Bauweise wurden. Es entstehen bewegte Grundrisse, über denen die Räume sich wie wandelnde Glieder einer Kette aneinanderreihen. Die Wohnhausgruppe »Romeo und Julia« (1959) in Stuttgart oder die Schule in Darmstadt (1953) sind geprägt von einer individuellen Abfolge der Baukörper. Der Grundriß ist, wie in der Berliner »Weinberg«-Philharmonie (1963) und der Staatsbibliothek (1978), geteilt in Abschnitte unterschiedlichen Erlebens.
Der Endpunkt der kleinen Grundrißreise führt, wie könnte es anders sein, zurück zu den Anfängen Scharouns. Der Dynamismus seiner Architekturen, die bewegte Form, vereinigt sich am letzen Bau, dem Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven (1969-75), zur großen Schiffsmetapher. Das Gebäude hat die Form eines vor Anker liegenden Bootes und ist der Versuch einer symbolischen Aufhebung der Grenze zwischen Land und Wasser, die Scharoun schon 1929 mit dem Bau des Breslauer »Ledigenheims« geschaffen hat: Der ozeanriesenartige Bau in Breslau (heute Wroclaw) glich wegen seiner Bullaugen, Kajütenfenster und Decks, den Schotts und Kojen, sowie den Reelings und dem Schornstein mehr einem Schiff als einem Haus und bestach mit dem Zauber einer Überseefahrt. Wer in der Akadamie von Bord geht, durfte ein Konzept sehen, das mit wenigen Zeichnungen und ohne erklärenden Text auskommt und eine Methode der Präsentation vorgibt, die für die 1993 stattfindende Retrospektive zum 100. Geburtstag des Architekten ein Maßstab ist. rola
Die Ausstellung ist bis zum 20. Mai täglich im Foyer der Akademie der Künste zu sehen. Der Eintritt ist frei.
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