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„Das Schaf ist zum Wolf geflüchtet“

■ Der kurdische Parlamentarier Eren aus der Türkei über die Politik gegenüber den irakischen Kurden/ Gegen ihn läuft in der Türkei ein Strafverfahren wegen „Separatismus“

Pressekonferenzen gehören für Parlamentarier zum Alltagsgeschäft, für Mehmet Ali Eren, Fraktionsmitglied der „Volkspartei der Arbeit“ (HEP) im türkischen Parlament, können sie gefährlich werden. Gegen den kurdischen Politiker, der 1990 wegen Teilnahme an einer Kurden-Konferenz aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen worden war, läuft zuhause ein Strafverfahren wegen „separatistischer“ Äußerungen. Tatort ist nicht etwa das türkische Parlament, sondern eine öffentliche Veranstaltung in Hamburg.

Auch im Berliner Rathaus, wo er gestern auf Einladung der Fraktion Bündnis 90/Grüne/UFV vor die Presse trat, war dem Politiker Rücksichtnahme auf mögliche strafrechtliche Konsequenzen nicht anzumerken. Eren nutzte die laufenden Kameras und Mikrofone, um vor allem vor der „neuen“ Kurdenpolitik des türkischen Ministerpräsidenten Özal zu warnen. „Das Schaf hat sich zum Wolf geflüchtet“ — mit diesem Sprichwort umschrieb er die Situation der irakischen Kurden, die vor der Armee Saddam Husseins ins türkisch-irakische Grenzgebiet geflohen sind.

Özals mit rhetorischem Aufwand vorgetragene Sorge um die kurdischen Flüchtlinge sei „Heuchelei“, die nur dazu diene, die westeuropäischen Regierungen zu täuschen. Angesprochen auf die Behinderungen von Hilfsaktionen durch türkisches Militär, über die sich auch Bundesarbeitsminister Blüm nach seinem Besuch in den Flüchtlingsgebieten empört zeigte, meinte Eren: „Ich empfehle allen Organisationen, ihre Hilfsgüter selbst an Ort und Stelle zu bringen und dort zu verteilen.“ Die Türkei habe den kurdischen Flüchtlingen nach den irakischen Giftgasbombardements 1988 nicht geholfen, „sie wird es auch dieses Mal nicht ernsthaft tun“.

Ein passendes kurdisches Sprichwort für die Rolle der USA in der Frage der Kurden hatte Eren nicht parat, wohl aber eine eindeutige Einschätzung. „Hauptschuldiger an der Tragödie der Kurden ist ohne Zweifel Saddam Hussein, doch die USA sind mitschuldig.“ Nach Bushs Aufforderung auch an die Kurden, sich gegen Saddam zu erheben, sei sein Volk im Stich gelassen worden. Auch die plötzliche Wende des US- Präsidenten, der nun doch amerikanische Soldaten zum Schutz der Kurden einsetzen will, sei nichts weiter als der Versuch, die Mitschuld an den Massakern durch humanitäre Maßnahmen zu vertuschen. Auch eine Schutz- oder Pufferzone für kurdische Flüchtlinge würde das Problem nicht lösen. Und bei aller Dankbarkeit für humanitäre Hilfe, die Eren ausgesucht höflich vor allem an die Adresse Bonns richtete, wolle man kein „Mitleid, sondern eine politische Lösung“. Eine autonome Region in einem föderativ strukturierten Irak, wie sie die beiden kurdischen Spitzenpolitiker Masoud Barzani und Jalal Talabani gefordert haben, ist für Mehmet Ali Eren ein „erster richtiger Schritt. Aber das reicht nicht aus. Uns steht ein eigener Staat zu.“

Bei aller Dankbarkeit für die humanitäre Hilfe aus Bonn mochte sich Eren zum Schluß einen Seitenhieb auf die Bundesregierung doch nicht verkneifen. Die hatte vor wenigen Tagen eine Anfrage der PDS, ob man den in der Bundesrepublik lebenden KurdInnen jetzt nicht endlich ihre vollen Rechte als eigenständiges Volk zuerkennen müsse, kurz und knapp mit „Nein“ beantwortet. Da beuge sich Bonn wohl immer noch dem Druck der türkischen Regierung, argwöhnte Eren. „Und das ist ein Armutszeugnis.“ Andrea Böhm

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