„Die Saison ist kaputt, kaputt, kaputt“

An der ligurischen Küste in Italien herrscht nach der Ölkatastrophe des Tankers „Haven“ Ratlosigkeit/ Die Bewohner der betroffenen Orte bereiten sich auf einen Krisen-Sommer vor/ Spekulanten versuchen die verworrene Lage auszunutzen  ■ Aus Genua Werner Raith

Der Sprecher des staatlichen Rundfunks RAI liefert, wieder mal, Belege seines unergründlichen, vermutlich unfreiwilligen Humors: „Wir haben heute von der Öl-Front zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte“, verkündet er mit fast fröhlicher Stimme. „Zuerst die gute. Im Bauch des gesunkenen Frachters Haven ist keinerlei Öl mehr vorhanden. Nun die schlechte. Es ist schon alles draußen auf dem Meer.“

Neben mir haut einer in der Espresso-Bar des „Continental“ derart wutentbrannt auf den Fernsehapparat, daß der um ein Haar am Boden zerschellt wäre. „So geht das nun schon seit Tagen“, bricht er los, „Arschlöcher, nichts als Arschlöcher lassen die auf uns los.“ Besonders verärgert haben ihn neben den landeseigenen Journalisten und denen der 'Bild-Zeitung‘ mit ihrer „Warnung vor einem Urlaub an der ligurischen Küste“ vor allem „die Riesenrindviecher von Wissenschaftlern und Zivilschützern und, vor allem, die klugscheißerischen Politiker, die uns seit Jahren hinhalten“.

Sie sind seiner Ansicht nach schuld an allem. Daß der Tanker in so schlechtem Zustand (zweimal am Persischen Golf von Bomben getroffen und nicht repariert) in der Welt herumschippern konnte, daß die Rettungsmaßnahmen nicht funktionierten, daß niemand Abhilfe gegen das unentrinnbare Desaster am Strand wußte, daß sich der Fremdenverkehrsverband völlig hilflos benimmt, daß...

Gianmario breitet die Arme aus: „Alles hätte man vermeiden können, alles, alles.“

Daß von Rom wenig Erbauliches kommt, gilt zwischen Genua (wo der Tanker „Haven“ mit an die 100.000 Tonnen Öl sank) und Livorno (wo eine Fähre einen Tanker aufspießte, 140 Tote) als ausgemacht. „Statt uns auch nur einen Funken Beistand und Hoffnung zu geben für dieses konkrete Unglück“, schreit ein gewisser Doktor D'Alemao bei einer Versammlung von Bürgermeistern der Küste zwischen Genua und Alassio ins Mikrophon, „versprechen sie uns eine schöne Zukunft. Aber wir müssen heute leben, und die Saison ist kaputt, kaputt, kaputt.“

Erinnerungen an Rimini

Der rauschende Beifall im Saal belegt die Untergangsstimmung. Der Arzt ist Vorsitzender des Fremdenverkehrsvereins und sieht seine Klientel „nun in einen Spagat gezwungen, der den von Rimini vor zwei Jahren noch weit übertrifft“. Damals hatte es an der Adria nach mehreren milden Wintern eine Algenplage gegeben. Die wollten die lokalen Hoteliers und Espressobarbesitzer, Betreiber von Vergnügungsetablissements und Strandeinrichtungen ähnlich wie sonst die Bauern nach Hagelschlägen nutzen und sich mit Hilfe lauten Katastrophengeschreis vom Staat viel Geld verschaffen. Doch während Rom das Lamento überhörte (bis heute wurde kaum etwas bezahlt), vernahmen es die ausländischen Tourismusunternehmen, glaubten an eine Totalverschmutzung und leiten seither ihre Klientelströme an andere Orte — außerhalb Italiens. Vergeblich alle angebotenen Beweise, daß sich das Gealge der vergangenen Jahre nicht wiederholen wird.

Das wollen nun die Tourismuseinrichtungen an der ligurischen und toskanischen Küste vermeiden — mit eben jenem Spagat, der ihnen gleichzeitig viel Schadensersatzgeld einbringen und dennoch die Fremden nicht vergraulen soll. Das aber ist keine leichte Aufgabe, und „unsere sogenannten Interessenvertreter tun in ihrer Blödheit auch alles dafür, noch mehr Konfusion zu streuen“, wie Gianmario im „Continental“ murrt, während er sechs neue Espressi hinüber zu einem Rudel eben angekommener Journalisten balanciert. Irgendwie hat er aber auch recht: Während der Fremdenverkehrsverband Liguriens lautstark „Schluß mit dem Alarmismus und dem Katastrophengeschrei“ dekretiert, prophezeit gleichzeitig ein Sprecher der Fischer-Innung ein „auf Jahre hinaus unbenutzbaren Meer“. Dagegen hält der Verband der Betreiber von Badeeinrichtungen der benachbarten Toskana — wo Livorno mit dem ebenfalls ausgelaufenen Ölschiff Agip Abruzzo und dem ausgebrannten Fährdampfer Moby Prince liegt — mit einem markigen: „Unsere Strände sind ab Mai wieder so sauber und herrlich wie eh und je.“

Doch gerade in dieser Gegend ist die Quote derer, die an derlei Wunder glaubt, noch geringer als in Ligurien — steht das Gebiet doch seit Jahren immer wieder im Mittelpunkt kräftiger Umweltkatastrophen. Mal, weil die Arno-Mündung aufgrund der Überdüngung gräßliche Verfärbungen annimmt, mal, weil von den Chemieanlagen um Massa Varrara hochgiftiges Zeug ausläuft, mal, weil eine Fabrik regelrecht explodiert war und das Wasser bis in tiefe Schichten verseucht hatte.

Spekulanten mischen mit

Wo guter Rat teuer ist, sammeln sich innerhalb kürzester Zeit all jene, die solchen Rat gegen viele Lire verkaufen wollen. „Dutzende trüber Firmen“ hat die Zeitung 'L'Unita‘ bereits aufgespürt und 'La Stampa‘ spricht bereits von einer „Invasion von Katastrophenhaien, die die Lage bedenkenlos ausnutzen“. Sanierer, die mit allerlei Chemikalien den trotz eiliger Beseitigungsversuche per Mistgabel oder Bulldozzer immer wieder stranddominierenden schwarzen Glibber an den Stränden innerhalb von nur drei Stunden noch vor dem Anschwemmen aufzulösen versprechen, dicke Anzahlung vorausgesetzt. Tourismusmanager, die behaupten, die tagtäglich eintreffenden Hotelstornierungen durch ein vielfaches potenter Trotzdem-Urlauber kompensieren zu können. Klimaanlagen-Fabrikanten, die auch für künftige Zeiten Filter gegen jede mögliche Luftverschmutzung parat haben. Und natürlich jede Menge „Experten“, die Betroffenen — gegen Abtretung von 20 bis 50 Prozent ihres Anspruchs — zu Entschädigungen verhelfen wollen. Vorauszahlung: 200 bis 300.000 Lire, umgerechnet zwischen 280 und 420 Mark pro Schadensfall. Nach Angaben der Carabinieri-Station von Alassio, westlich von Genua, fallen „in jedem der Orte ringsum so jeden Tag drei oder vier örtliche Geschäftsleute auf derlei Gauner herein“. Nahe Finale Ligure haben die Polizisten bereits einen ganzen Schwung zugereister Geschäftemacher festgestellt, die mit fliegenden Büros — teilweise in feudalen Campern — „Wiedergutmachungsämter“ vorspiegeln und jedem ein „Vorrecht auf schnelle Behandlung seines Falles“ versprechen. Kauf einer (natürlich gefälschten) Steuermarke zu 20.000 Lire vorausgesetzt. Tags danach sind die „Ämter“ wieder weg. Die Autokennzeichen weisen meist auf Neapel oder Palermo — „einige der Burschen kennt man schon seit den Affären mit den Wiederaufbauhilfen nach Erdbeben“, wie ein Kommissar in Genua berichtet.

Wo so viel unklar ist, sind die Menschen, die täglich aufs Meer hinausfahren, die einzige Hoffnung auf authentische Berichte. Doch auch da geht derzeit nur wenig: Die Fischerei wurde verboten, an die Öllachen herantuckernde Kähne werden von den Schnellbooten der Küstenwache, den Carabinieri und der Finanzpolizei sofort wieder verscheucht. Und die Leute von den Sanierungsschiffen sind ebenso wie die Seeleute der absichernden Kriegsmarine zum Schweigen vergattert worden. Deutlich zu erkennen ist lediglich, daß die Absaugschiffe immer mehr Mühe haben, einigermaßen Mengen von Öl abzupumpen. Denn der zunächst landwärts, dann wieder gegen das offene Meer und danach wieder zurücktreibende Wind hat das Öl so weit verteilt, daß nach Angaben der Küstenwache „mehr als dreihundert Schiffe nötig wären, überall dort anzusetzen, wo noch große Flecken sichtbar sind“. Tatsächlich aber sind nur knappe zwei Dutzend vorhanden.

Die schlechte Informationslage und die mangelnde Klärung der Perspektiven nährt natürlich nur wieder alle möglichen Gerüchte. Daß in der Zone um den gesunkenen Tanker am Meeresboden noch andere Zeitbomben gefunden wurden, daß Wasserproben den Verdacht auf zusätzliche Ladungen der „Haven“ mit Giftmüll ergeben hätten. (Angeblich sind nach dem Löschen eines Teils des Öls bereits Container an Bord gebracht worden, von denen einer die Ursache der Explosion gewesen sein soll.)

Vielleicht tröstet diesmal nun doch endlich ein Spruch des unverbesserlichen RAI-Nachrichtenverfassers. „Die ökologische Gefahr“, erkannte er am Sonntag, „ist endlich gebannt. Wenn das Öl zurückkehren sollte, dann nicht mehr an die ligurische Küste, sondern an die französische.“