: Außer der Macht ist alles Illusion
Seit Jahren macht in Peru die maoistische Guerilla „Sendero Luminoso“ mit ihrem Kampf gegen den Staat, mit Terror und Gegenterror von sich reden. Was für eine Ideologie steht hinter diesem Krieg? ■ VON CIRO KRAUTHAUSEN
Außer der Macht ist alles Illusion“: keine andere Losung bringt die Strategie des „Leuchtenden Pfades“ Sendero Luminoso so exakt auf den Punkt. Die Sowjetunion zerbricht, die DDR ist verschwunden, Ceausescu ist begraben, Albanien öffnet sich, China grüßt die internationalen Multis, Kuba erodiert — im fernen Peru jedoch hält eine maoistische Bewegung ungerührt von Glasnost und Perestroika die Regierung in Lima mit Hammer und Sichel in Schach.
Für Schauergeschichten ist Sendero immer gut: KämpferInnen, für die es selbstverständlich und sogar wünschenswert ist, ihren Blutzoll an die Weltrevolution zu entrichten; ihre Opfer, die „wie Insekten zerstampft“, sprich: aufs Brutalste erschossen, erdrosselt oder gesteinigt werden; eine Selbstdarstellung, deren Ikonographie an die schlimmsten Zeiten der chinesischen Kulturrevolution erinnert; ein Führer, der sich „Präsident Gonzalo“ nennen läßt und deren finsterer Blick auf dem Paßfoto allein schon beunruhigend wirkt. Es ist wahr: Sendero ist eine Gruppe von Fanatikern, deren Aktionen zuallererst irrsinnig erscheinen. Viel mehr aber noch ist Sendero eine äußerst disziplinierte Partei und Guerillabewegung, deren Aktionen ideologisch gefestigt sind und die sich in zwanzig Jahren politischer Arbeit eine Strategie zur Machtübernahme zurechtgelegt hat, an der bislang auch die härteste Repression nur wenig ändern konnte.
Offiziell nennt sich Sendero „Partido Comunista del Peru, PCP“: Kommunistische Partei Perus. Anfang der 70er Jahre, als in Peru zeitweise sechs verschiedene maoistische Parteien bestanden, war Sendero Luminoso nur eine Fraktion unter vielen und besaß zudem ihre Hochburg nicht in der alles entscheidenden Hauptstadt, sondern in der kleinen und verschlafenen Provinzstadt Ayacucho in den Anden. 1962 kam der damals 28jährige Philosophieprofessor Abimael Guzmán an die dortige Universität und leitete von Beginn an eine kommunistische Jugendgruppe. Ende der 60er Jahre kontrollierten Guzmán und seine Gefolgsleute sämtliche Gremien der Universität und bildeten die stärkste Bewegung in einer breiten „Front zur Verteidigung der Interessen Ayacuchos“. 1970 trennte sich Sendeto Luminoso ob der Haltung gegenüber der Militärdiktatur von „Bandera Roja“ (Rote Fahne), der damals größten maoistischen Partei.
Für ein paar Jahre noch kontrollierte Abimael Guzmáns „Sendero“ die Universität und diverse Bürgerbewegungen — immer im Clinch mit allen anderen linken Gruppen, die entweder als „Reformisten“ oder „Revisionisten“ gebrandmarkt werden. Dann, gegen 1976, begannen seine Führer und Parteigänger langsam in den Untergrund abzutauchen und erschienen immer seltener in der Öffentlichkeit. Als nach elf Jahren Militärherrschaft 1980 erstmals wieder eine demokratische Zivilregierung gewählt wurde, initiierte Sendero Luminoso, ungerührt von der Welle des demokratischen Optimismus, die auch einen Großteil der Linken erfaßt hatte, noch am Wahltag den bewaffneten Kampf. Daß die Revolution nur durch die Gewalt erzwungen werden kann, das war in den 60er und 70er Jahren unter vielen Linken eine gängige Redewendung. Die kleine und provinzielle Sendero Luminoso aber war die einzige Gruppe, die noch Anfang der 80er den Worten Taten folgen ließ.
Sendero frönt dem „Marxismus- Leninismus-Maoismus“, weiterentwickelt durch den „Pensamento Guía, dem „Leitenden Gedankengut“ des Präsidenten Gonzalo (wie Abimael Guzmán für seine Anhänger heißt). Hinter einem derartigen Wortungetüm verbirgt sich die entschiedene Anlehnung an den mit Marx und Lenin auf ein Treppchen gestellten Mao Zedong. Nach Ansicht von Sendero Luminoso ist der Philosophieprofessor und Chef der Kommunistischen Partei Perus, Abimael Guzmán, der direkte Nachfolger Maos.
Wer Guzmáns einzige öffentliche Äußerungen seit Beginn des Krieges, ein in der damals noch legalen Sendero-Tageszeitung 'El Diario‘ 1988 veröffentlichtes „Jahrhundertinterview“ liest, darf freilich an einer solch optimistischen Selbsteinschätzung zweifeln. Auf 45 Seiten zitiert Abimael Guzmán zwar ausführlich Marx und Engels, Stalin und Lenin, und selbstverständlich Mao, aber eine eigene systematische Weltanschauung kann er seinem Interviewer nicht ins Mikrofon diktieren. Der Ansatzpunkt zur Analyse Perus selbst ist, wohlwollend gesagt, zweifelhaft. Peru sei eine „semi-feudale“ Gesellschaft, mit einer „vom US-Imperialismus abhängigen Großbourgeoisie“ und einer „staatlichen Bürokratie“, die die fehlende „kapitalistische Bürokratie“ ersetze.
Fahrplan zur Revolution
Daß die Diagnose selbst falsch ist, bedeutet nicht, daß ihr Schluß — der „Anhaltende Volkskrieg“ — nicht durchzuführen sei. Die Strategie des Krieges sieht drei Etappen vor. In der noch heute, nach über zehn Jahren Krieg währenden Etappe der „Strategischen Verteidigung“ sollen die „Volksguerilla-Armee“ (EGP) aufgebaut und Schritt für Schritt einzelne Territorien „befreit“ werden. Die Losung „Zerstören und Aufbauen“ bedeutet, daß in einzelnen Regionen parallel zur Zerstörung der bestehenden staatlichen Organisationen die „Neue Ordnung“ errichtet wird. Wenn die Senderistas die Kontrolle eines Dorfes übernehmen, bestimmen zuallererst sie selbst, ohne die Bevölkerung zu befragen, fünf „Delegierte“, die als „Volkskomitee“ die Macht übernehmen. Zusätzlich kommt es vor, daß noch ein zweites, hochgeheimes Netz von Delegierten ernannt wird, das, sollte das offizielle Volkskomitee von der staatlichen Repression zerstört werden, schnell an dessen Stelle treten kann. Gleichzeitig fördert Sendero die systematische Denunziation: Beklagt sich nach Wochen oder Monaten die Bevölkerung über die „Delegierten“, können sie von der EGP hingerichtet werden — vorausgesetzt, sie sind als Händler oder reiche Bauern nicht selbst eine attraktive Finanzquelle für Sendero. Der Zusammenschluß vieler Volkskomitees läßt eine „Base de Apoyo“, eine ganze von Sendero kontrollierte und „Unterstützungsbasis“ genannte Region entstehen.
Wenn genügend viele und große „Bases de Apoyo“ entstanden sind und die EGP zu einer regelrechten Armee herangewachsen ist, sollte die zweite Etappe des Krieges anlaufen: die des „strategischen Gleichgewichts“. Nun stände die Kommunistische Partei mit ihrer Armee dem Staat ebenbürtig gegenüber: wie dieser verfüge Sendero über ein eigenes Territorium und eine stehende Armee, die den Übergang von den Nadelstichen der Guerillataktiken zu einem klassischen Stellungskrieg ermöglichen würde.
Sendero müßte nun über einen Gürtel von befreiten Territorien längs der Anden, die ganz Peru in Süd-Nord-Richtung durchqueren, verfügen. In dem Moment, in dem sich die Balance des Krieges zugunsten der EGP neigt, würde die letzte Etappe eingeleitet: die der „strategischen Offensive“. Nach der in der vorherigen Etappe ermöglichten „Umzingelung der Städte vom Land her“ könnte nun zum entscheidenden Angriff geblasen werden. Die Küstenstädte, allen voran die Hauptstadt Lima, würden von der „Neuen Macht“ gestürmt, der Staat weggefegt. Danach würde die „Volksrepublik der Neuen Demokratie“ entstehen und die „Diktatur des Proletariats, der Bauern und der Kleinbourgeoisie“ eingesetzt. Und weiter, wie es in einem Thesenpapier Senderos zu lesen steht: „Die Fortführung der Revolution unter der Diktatur des Proletariats wird mit revolutionärer Gewalt durch Kulturrevolutionen aufrechterhalten, zum Kommunismus werden wir nur mit revolutionärer Gewalt schreiten, und solange auf Erden Ausbeutung existiert, werden wir ihr mit revolutionärer Gewalt den Garaus machen.“
Wird die Guerilla endemisch?
Soweit der Fahrplan zur Revolution. Hirngespinste unverbesserlicher Fanatiker oder realistische Perspektive? Die mindestens 5000 aktiven KämpferInnen von Sendero — genaue Schätzungen wagt keiner — agieren heute in der Mehrzahl der 24 peruanischen Departments; gut die Hälfte der Bevölkerung Perus lebt wegen der Aktionen von Sendero im Ausnahmezustand und muß sich den Befehlen eines militärischen Kommandanten fügen. In zehn Jahren Krieg starben über 15.000 Menschen. Sendero konnte nicht wie geplant Ende 1989 und im April/Mai 1990 die Wahlen verhindern, ermordete bei dem Versuch jedoch seit 1989 63 Bürgermeister. Für den Journalisten Gustavo Goritti, der an einer dreibändigen Geschichte der Guerillabewegung schreibt, befindet sich Sendero kurz davor, die Phase des „strategischen Gleichgewichts“ einzuleiten. Auf den Einwand, die dazu notwendigen „befreiten Gebiete“, die „Bases de Apoyo“, seien nirgends zu sehen, bemerkt Goritti, Sendero übe in vielen Gebieten eine heimliche Kontrolle über die Bevölkerung aus, die schnell in Territorialherrschaft umgewandelt werden könne.
Ganz anders sieht die Lage Raúl González, ebenfalls Journalist und namhafter Sendero-Experte: „Der Sieg Senderos ist weder intern noch extern möglich“. Abimael Guzmán und seine Leute hätten es in zehn Jahren nicht geschafft, die geplanten „Bases der Apoyo“ und die Aemee „EGP“ zu schaffen, und müßten nun auch noch zusehen, wie die These Guzmáns, die Städte vom Land her zu umzingeln, angesichts der durch den Krieg verstärkten Landflucht in die Städte wegen Menschenmangel scheitert. Sicher werde nun verstärkt in den Städten gearbeitet — das Fiasko der Thesen Guzmáns und damit der Quintessenz von Sendero könne damit aber nicht verborgen bleiben. „Es ist denkbar, daß Sendero zu einer endemischen Guerillabewegung ohne reelle Chancen auf eine Machtübernahme wird.“ Freilich will Raúl González auch eine andere Möglichkeit nicht ausschließen: „Wenn der Staat und die Regierung weiterhin die Fehler begehen, die sie bis heute begangen haben, kann Sendero weiter wachsen.“
Wer aber ist Sendero? Der dritte im Bunde der bekannten Sendero- Experten, der Anthropologe Carlos Iván Degregori, spricht von einem „relativ schmalen, aber explosiven Spektrum aus jungen Menschen, die meist aus der Andenregion stammen und im krisengeschüttelten Peru keinen Platz für sich finden“. Menschen, die aus der Provinz in die Stadt kamen und ein moderneres und weltoffeneres Peru kennenlernten, gleichzeitig jedoch auf die tiefsitzenden rassistischen Vorurteile der Küstenstädte stießen. Menschen, die zurückkehrten in die Provinz und plötzlich merkten, daß auch sie ihnen fremd geworden war. In der von Abimael Guzmán entworfenen „Neuen Macht“ sehen sie die Zukunft, die ihnen das andere Peru nie bieten konnte. „Hast du Abimael Guzmán noch nicht gesehen?“ fragt eine ausländische Beobachterin in Lima. „Ich treffe ihn andauernd: im Restaurant, in der Bank, auf der Straße. Es gibt Tausende von Abimaels in diesem Land.“
Auf Deutsch sind Dokumente von Sendero und Schriften von Abimael Guzmán unter dem Titel „Die Anden beben“ im Zambon Verlag (Leipziger Straße 24, Frankfurt/Main) erschienen. 1990, 242 S., DM 19,80.
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