: Das Brot der Träume, der Traum vom Brot
■ Hunger und Wahn im vorindustriellen Europa
Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“ — Ein Satz Wittgensteins aus dem Tractatus tritt einem beim Lesen dieses Buches immer wieder ins Gedächtnis. Eine vielfältige Illustration dieser schlagenden Wahrheit hat der Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker Camporesi für einen historischen Zeitraum vorgelegt, für die Zeit zwischen dem 15. und dem 18.Jahrhundert in Europa.
Im Alltag der Masse der Bevölkerung in jener Epoche, der Bauern, Landarbeiter, Almosenbettler und Landstreicher, nimmt der Hunger die erste Stelle ein; der Mangel an Nahrungsmitteln zieht alles andere, was Menschen bewegt hat, Religion und Sexualität, Phantasien und Ängste in ein eigens System, in einen Zusammenhang allgenenwärtiger materieller Not. Daß die Armen im vorindustriellen Europa so oft in Rauschzustände und Hysterien verfielen, daß sie delirierten, hatte seine Ursache vor allem im Hungern, und insbesondere darin, daß dieser Hunger die längste Zeit im Jahr allein mit „Ersatzstoffen“ für das Grundnahrungsmittel Brot gestillt werden konnte.
Aus praktisch jedwedem Mittel hatte man versucht, Brot zu backen, so belegt Camporesi, selbst aus Traubenkernen und Farnwurzeln. Bekamen die Stadtbewohner reines Weizenbrot zu essen, war die Landbevölkerung dagegen auf „unreines“, aus Bohnen, Mohn, Mutterkorn und ähnlichem zusammengesetztes Brot angewiesen, auf Stoffe, die Räusche und wahnhafte Zustände hervorriefen und starken Einfluß auf die weitverbreiteten Wahrnehmungen von Hexyensabbat, Werwölfen, von Geistern und Wundern gehabt haben dürften.
Camporesi gelingt die Beschreibung einer kulturhistorischen Wechselwirkung zwischen dem elenden materiellen Leben der Masse und den aus diesen Lebensverhältnissen erwachsenden Glaubensvorstellungen und Traumwelten, darin folgt er einer Tradition der Geschichtsschreibung, für welche etwa die Forschungen Carlo Ginzburgs oder LeRoy Laduries beispielhaft sind. Das Brot der Träume stellt keine fortlaufende Geschichte dar, vielmehr streift der Autor die verschiedenen historischen Subjekte, die er für sich entdeckt hat, er gibt Textstellen von Chronisten und Erzählern wider und ruft den Gedanken an die anonymen Zeugen und Opfer einer Zeit wach. Durch die Kombinationskunst seiner Quellen nähert sich Camporesi einer Art Multiperspektive, wie sie analog dem modernen Roman eigen ist. Die Erzählung hat keine Richtung, keinen Ereignisablauf, sie folgt keinem chronologischen Faden, sondern bewegt sich gleichsam in der Anschauung unter leicht versetzten Aspekten; der Text bleibt vorsichtig gegenüber jeder wissenschaftlichen Analyse einer bestimmten zeitlichen Struktur; sie könnte die Gefahr bergen, die tatsächlichen Leiden der vielen Einzelnen als ein Material zu neutralisieren und stumm bleiben zu lassen.
Mit seinem Buch liefert Camporesi einen Beitrag zur Erforschung des Alltags, der Einstellungen zur Ernährung, zum Körper, zur Familie — und er schreibt an der Geschichte kollektiver Vorstellungen und Träume weiter, doch stets mit dem Verweis auf den immergleich über die Masse hereinbrechenden Hunger, der in der frühen Neuzeit chronisch und endemisch geworden war.
Hunger als Untergrund im „Prozeß der Zivilisation“, das zeigt Comparesi, gehörte der Kategorie der „natürlichen Dinge“ an — „er war auch die gesellschaftliche ,elende Krankheit‘ und Vorhof des Todes... engster Vebründeter der seuchenartigen Krankheiten, die charakteristischerweise in den Gesellschaften auftraten, die in die Phase der staatlichen Organisation eingetreten waren und die dennoch unzählig viele Menschen in Armut und Überbevölkerung verkommen ließen.“ Chronische Unterernährung führte zu einem Dämmerzustand der Masse der Unterschichten; gewissermaßen unter beständigem Einfluß sogenannter „weicher Halluzinogene“, die die Ersatzstoffe enthielten, degenerierten die Hungernden zu Schlafwandlern. So ist es erklärlich, daß die Welt für die Menschen ein „doppeltes Gesicht“ besaß oder Kopf stand, sie verlor ihr Zentrum und wurde maßlos, monstös und unförmig. In den volkstümlichen Utopien wie der vom Schlaraffenland etwa spielt die Natur verrückt und entzieht sich der Zeit und der Logik. Es waren künstliche Paradiese, magische Verzerrungen — sie liefern das Bild einer „Kultur des Hungers“, ein Bild, das von fiebernder Angst vor den nächtlichen Besuchen von schrecklichen Nachtgesichten, von Kobolden, Vampyren und Hexen erfüllt war. Gegen die überfälle jener Angstträume stellte man Geheimrezepte und Abwehrarzneien auf.
„Die Grenze zwischen Halluzinogenen und Teufelsbesessenheit“ — so schreibt Camporesi — „war den Zeitgenossen ungewiß. Beides wurde durch die Kenntnis der Kräuter gegen Verzauberung und Dämonen, in Arzneibüchern gegen die Dämonen sind sie festgehalten, ausgetrieben, die Gestalt des Exorzisten mochte sich dabei mit der des Toxikologen annähernd vermischen.“
Zu Beginn des Zeitraums, von dem Camporesis Buch handelt, haben Krieg, Pest, Epidemien und Hungersnöte, diese vor allem, die stärksten Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. Geradezu apokalyptische Ausmaße erreicht die Entvölkerung Europas im 15.Jahrhundert. Mit der sogenannten „mikrobiellen Vereinigung der Alten und der Neuen Welt“, also der Zuwanderungsbewegung von Viren und Bazillen aus außereuropäischen Ländern als Folge der globalen Entdeckungen, kommt es zu einer weiteren Gefährdung. Überdies lassen sich die pathologischen Zustände der Bevölkerung auch aus der Klimaveränderung innerhalb jenes historischen Zeitraums erklären, welchen Fernand Braudel als „Kleine Eiszeit“ bezeichnet hat: Viele Epidemien treten aufgrund sinkender Temperaturen auf, magere Ernten und schlechte Ernährung sind die Folge, und die oft undurchsichtige Preisentwicklung beim Getreidehandel hat großen Einfluß auf die Verarmung und Verelendung der Menschen.
„Je mehr sich alles bewegt, desto mehr bleibt es gleich“ — das Wort von LeRoi Ladurie gibt auch Sinn für Das Brot der Träume; das Werk erzählt eine vergleichsweise immobile Geschichte, es gibt Material wieder aus einer für uns abgeschlossenen Kultur mitsamt ihrem vergessenen Wissen, einem Wissen, dessen man sich erst allmählich, auf dem Weg der Erforschung von Rausch und Drogen, wieder erinnert.
Camporesi geht nah an seine Textquellen heran, liest viel aus ihnen heraus und läßt sie in seinem Buch beredt werden. Er schreibt auf der Seite einer Historiographie, welche die Kenntnis der Vergangenheit in Begriffen einer „Wissenschaft des Gelebten“ zu theoretisieren versucht. Ihm ist das existentielle Alltagsgeschehen mit seinen tragischen Bedeutungen und namenlosen Schicksalen Gegenstand einer konkreten Rekonstruktion, die Gelebtes „beseelen“ will, ganz entgegen jeglicher quantitativer Bewertung aus Kurven und Tabellen. Im Vergleich mit Lebensbeschreibungen und Familienchroniken vermögender Schichten und Herrscherhäuser geht es hier vielmehr um die Existenzprobleme der Armen — es empfiehlt sich, diesen Begriff sehr weit zu fassen —, das Buch konzentriert sich auf die selten thematisierten Abläufe eines massenhaften anonymen Elends, den nahezu unsichtbaren „Staub der Geschichte“, für den Zeugnisse aus subjektiver Sicht aus Stoffen literarischer Fiktion herrühren.
Als Quellen der Kultur, Ideologien und Mythen der Unterschichten zitiert Camporesi vor allem plastische und beschreibende Texte: etwa Traktate und Gesänge von Priestern, die durch ihren Armen- und Hospizdienst dauernden Kontakt mit den Bettlern und Kranken einer Stadt hatten und wohl die realistischsten Abhandlungen über den Hunger und seine Ausmaße verfaßten. Camporesi gibt Liedtexte von herumziehenden Bänkelsängern wieder, Texte, in denen die mündliche Kultur der analphabetischen Massen aus dem verflosssenen Alltag herausgehoben und ihr durch das Wort dauernder Ausdruck gegeben worden war. Zu den bedeutsamsten Quellen gehören darüberhinaus geistliche Rezeptschriften, kodifizierte Heilverfahren, die von städtischen Apothekern für die Zeiten des Mangelns aufgeschrieben wurden; Camporesi führt diverse Zeugnisse medizinischen „Geheimwissens“ auf, pharmazeutische Lehr- und Kräuterbücher, hybride Formen einer Parallelität von Schulmedizin und Volkskultur. Vorwissenschaftliche Naturgeschichten enthalten Begründungen und Kommentare, die eine biologische Minderwertigkeit des sozial Geringeren festschreiben sollten; Denkschriften über die Landstreicher und Bettler illustrieren einen klassenspezifischen Alptraum der Landstreicherplage, die man mit der von Heuschrecken verglich.
Auch die Passagen, die dem folkloristischen italienischen Theater aus Renaissance und Barock entnommen sind, dokumentieren, wie aussagekräftig Quellen der Fiktion für die Geschichte sind. Tragische Farcen, traurige Possen und Zwiegespräche sind dazu angelegt, mit Gelächter den Hunger zu bannen und auszutreiben. Es bleibt noch das literarische Lamento — das Wehklagen der Armut: durch dessen „tragisches und schmerzerfülltes Gesprochenes“ gelangt der Kulturhistoriker zu einer emphatischen, hart erarbeiteten Entdeckung — daß in solchen Texten „wirkliche Berührung mit der Vergangenheit“ für ihn möglich wird.
Jörg Becker
Piero Camporesi: „Das Brot der Träume. Hunger und Halluzination im vorindustriellen Europa“, geb., 250 Seiten, Campus Verlag, 48DM
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