: Wahn muß übers Denken wachen
Ein Gespräch mit Jacques Derrida ■ Von Fran¿ois Ewald
Fran¿cois Ewald: 1968 unterrichteten Sie an der Ecole normale, der Hochburg der Proteste. Waren die Ereignisse für Sie von Bedeutung?
Jacques Derrida: Ich war kein „Achtundsechziger“. Ich habe zwar an Protestmärchen teilgenommen und die erste Generalversammlung in der Rue d'Ulm organisiert, aber ich war reserviert, sogar beunruhigt über eine gewisse spontaneistische, fusionistische, antisyndikalistische Euphorie, über diesen Enthusiasmus der nun endlich „freien“ Rede, der wiederhergestellten „Transparenz“ usw. Ich habe nie an solche Dinge geglaubt.
Sie fanden das ein bißchen naiv?
Ich war nicht dagegen, aber ich schwinge nicht leicht im Gleichklang. Ich hatte nicht das Gefühl, bei einer großen Erschütterung dabeizusein. Inzwischen glaube ich, daß sich in dieser Schwelgerei, die nicht sehr nach meinem Geschmack war, etwas anderes ereignet hat.
Was?
Ich könnte es nicht benennen, ein von weit kommender und weitreichender Erdstoß. In der Kultur und der Universität sind diese Erschütterungswellen immer noch nicht abgeklungen. Erst im Nachhinein bin ich dafür empfindlich geworden, als ich sah, wie die rückwärtsgewandten und konservativsten Kräfte mit ihren Ressentiments wieder die Macht ergriffen, gerade an der Universität. Darum habe ich erst im Nachhinein angefangen, meinen Lehrveranstaltungen eine deutlichere — sagen wir — „militante“ Form zu geben. (...)
War der Mai 68 ein philosophisches Ereignis?
Zweifellos — und zwar eines jener philosophischen Ereignisse, die nicht einfach in Gestalt eines Werks oder einer Abhandlung auftreten, sondern die überhaupt erst zu jenen in Titeln und Autorennamen identifizierbaren philosophischen Ereignissen führen und sie mit sich bringen. Einen gesellschaftlichen oder diskursiven Zustand in Frage stellen — den gewisse Leute zur Natur erklären und deshistorisieren wollen —, indem man ihn erschüttert oder an seiner Änderung mitwirkt, die Frage nach der Geschichtlichkeit dieser Strukturen stellen: Das ist auch ein philosophisches Ereignis oder das Versprechen eines philosophischen Ereignisses. Ob man es weiß und will oder nicht — so etwas verändert die Philosophie. (...)
Wir haben noch nicht über die „Dekonstruktion“ gesprochen.
Das ist niemals unverzichtbar, ich bestehe überhaupt darauf.
Bezeichnet der Begriff ihr fundamentales Projekt?
Ein fundamentales Projekt hatte ich noch nie. Und „Dekonstruktionen“ — ich ziehe den Plural vor — hat nie ein Projekt, eine Methode oder ein System benannt. Vor allem kein philosophisches System. In stets sehr genau festgelegten Kontexten ist „Dekonstruktionen“ einer der möglichen Namen, um — alles in allem durch Metonymie — zu bezeichnen, was geschieht oder nicht zum Gechehen kommt, nämlich eine gewisse Dislokation, die sich in der Tat regelmäßig wiederholt, und zwar überall dort, wo es eher etwas gibt als nichts: sicherlich zum Beispiel in dem, was man klassischerweise die Texte der Philosophie nennt, aber auch in allem „Text“ in dem allgemeinen Sinn, den ich für diese Wort zu rechtfertigen suche, das heißt kurzweg in der Erfahrung, in der sozialen, historischen, ökonomischen, technischen, militärischen usw. „Wirklichkeit“.
Worin besteht die Beziehung zwischen Dekonstruktion und Kritik?
Die Idee der Kritik — auf die man, glaube ich, niemals verzichten sollte — hat eine Geschichte und Voraussetzungen, die ebenfalls einer dekonstruktiven Analyse bedürfen. Im aufgeklärten Stil, bei Kant oder Marx, aber auch im Sinne der (ästhetischen oder literarischen) Wertung, setzt Kritik das Urteil, die freie Entscheidung oder Wahl zwischen zwei Begriffen voraus, und in der Idee des krinein, der krisis, verbindet sie sich mit einer gewissen Negativität. Zu sagen, daß all das dekonstruierbar ist, heißt nicht, es zu disqualifizieren, zu verneinen, zu leugnen oder zu überholen, sondern seine Möglichkeit von einem anderen Standpunkt aus zu denken, von der Genealogie der Urteilskraft, des Willens, des Bewußtseins, der binären Struktur usw. Dieses Denken transformiert vielleicht den Raum und läßt, durch alle Aporien hindurch, die (nicht-positive) Affirmation aufscheinen, die von jeder Kritik und jeder Negativität vorausgesetzt wird. (...)
Ihre Techniken des Lesens und Schreibens — ist das die Dekonstruktion?
Ich würde eher sagen, eine ihrer Formen oder Erscheinungsweisen. Diese Form bleibt notwendig beschränkt, festgelegt durch eine Vielzahl offener kontextueller Bestimmungen (die Sprache, die Geschichte, die europäische Szene, in der ich schreibe oder eingeschrieben bin mit allen möglichen mehr oder weniger zufälligen Gegebenheiten, die mit meiner Privatgeschichte zu tun haben usw). Ich habe Ihnen ja gesagt: Dekonstruktion — Dekonstruktionen — gibt es überall. [...]
Kant charakterisierte seine Epoche als diejenige der Kritik. Befinden wir uns heute im Zeitalter der Dekonstruktion?
Eher im Zeitalter einer gewissen Thematik der Dekonstruktion, das tatsächlich einen bestimmten Namen erhalten und sich bis zu einem bestimmten Punkt in seinen Methoden und Reproduktionsformen formalisieren wird. Aber die Dekonstruktionen fangen hier weder an, noch hören sie hier auf. Es ist sicher notwendig, aber noch ziemlich schwierig, diese Intensivierung, diesen Übergang zu einem Thema und Namen, diese beginnende Formalisierung genau zu bezeichnen. [...]
Wir befinden uns in einer Periode, wo niemand mehr weiß, was er soll, einer Periode eines weit verbreiteten, vollkommenen Nihilismus. [...] Wohin führt eine Arbeit wie die Ihre?
Ich weiß nicht. Oder eher: Ich glaube, daß man das nicht wissen kann, was nicht heißen soll, daß man auf das Wissen verzichten und sich mit der Dunkelheit abfinden müßte. Es geht hier um Verantwortungen, die nicht dem Wissen folgen, nicht wie Konsequenzen oder Wirkungen aus dem Wissen fließen dürfen, wenn sie zu Entscheidungen und Ereignissen führen sollen. Andernfalls würde man ein Programm abspulen und sich bestenfalls wie ein „intelligentes“ Geschoss fortbewegen. Diese Verantwortungen, die festlegen, „wo es lang geht“, sind der formalisierbaren Ordnung des Wissens fremd — vor allem sind sie auch den Begriffen fremd, auf die man die Idee der Verantwortung und Entscheidung selbst gestellt, ich würde sogar sagen: abgestellt hat. [...] Immer wenn eine (ethische oder politische) Verantwortung übernommen werden muß, muß man strikt antinomisch, der Form nach aporetisch, in einer Art Erfahrung des Unmöglichen vorgehen — , denn die einfache Anwendung einer Regel durch ein bewußtes, mit sich selbst identisches Subjekt, das einen Fall unter ein objektiv gültiges, allgemeines Gesetz stellt, führt sonst zur Unverantwortlichkeit oder zumindest zum Verlust der beispiellosen Singularität der zu treffenden Entscheidung.
Das Ereignis, das nach Maßgabe der Andersheit des Anderen jedes Mal singulär ist, muß auch jedes Mal neu erfunden werden — nicht ohne Begriffe, aber doch indem der Begriff jedes Mal überschritten wird, ohne Rückversicherung und Gewißheit. Die Verpflichtung dazu ist notgedrungen doppelt, widersprüchlich oder strittig, denn sie erwächst aus einer Verantwortung und nicht aus einer moralischen oder politischen Technik. Ein Beispiel: Wie soll man einerseits die Einzigartigkeit eines Idioms, die Rechte einer Minderheit, die sprachliche und kulturelle Differenz verteidigen? Wie soll man der Uniformierung, Homogenisierung, Nivellierung der Kultur widerstehen? Aber andererseits: Wie soll man für all das kämpfen ohne die möglichst einverständige Kommunikation, Übersetzung, Information, demokratische Diskussion und ohne das Gesetz der Mehrheit zu opfern? Man muß jedesmal erfinden, um die eine wie die andere Seite so wenig wie möglich zu verraten. (...)
Aber natürlich: Auch unter Anerkennung dieses doppelten Imperativs (der so widersprüchlich ist), auch nach einer schonungslosen Kritik der Politik — jeder Politik, die in der fernen oder unmittelbaren Vergangenheit die Prämissen des Golfkriegs geschaffen hat — konnte die Entscheidung, die zu treffen übrigblieb, nur eine furchtbare strategische Wette sein und einzig darauf setzen, daß nach Abschluß der Tragödie (und nichts wird die Toten, die sie gekostet haben wird, aufwiegen) die Erinnerung daran bewahrt wird, daß Lehren gezogen werden, um besser auf diesen doppelten Imperativ antworten zu können. Die abscheuliche strategische Wette kann durch nichts im voraus abgesichert werden, nicht einmal durch die (notwendigerweise stets spekulative) Kalkulation, daß eine entgegengerichtete Wette zum Allerschlimmsten geführt hätte. Ich denke, daß man diese abstrakten Schemata heute leicht übersetzen kann, nicht wahr. (Man wird dieses Gespräch datieren müssen: am Tage vor der alliierten Bodenoffensive.)
Ich wollte nur darauf hinweisen, daß in einer so paroxystischen Situa
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tion (aber das gilt für jede Situation) Behauptung einer Sicherheit oderNicht-Widersprüchlichkeit bloße Gestikulation des Optimismus, guten Gewissens und der Unverantwortlichkeit ist: und daher Unentschiedenheit, tiefe Untätigkeit unter dem Anschein des Aktivismus oder der Resolution.
Anders gesagt: Gibt es eine Philosophie des Jaques Derrida?
Nein.
Keine Botschaft?
Nein.
Gibt es etwas Normatives?
Sicher, das gibt es, es gibt nichts als das. Aber wenn Sie mich implizit fragen, ob das, was ich da sage, im gewöhnlichen Wortsinne normativ ist, hätte ich größere Schwierigkeiten, Ihnen zu antworten. Warum mag ich dieses Wort „normativ“ nicht besonders in diesem Kontext? Was ich über die Verantwortung sage, zielt eher in die Richtung eines Gesetzes, eines imperativen Gebotes, auf das man letztlich ohne Norm, ohne Normativität oder eine aktuell vorzeigbare Normalität antworten muß; ohne irgendetwas, das ein zu einer Seins- und Werte-Ordnung gehöriger Gegenstand des Wissens sein könnte. [...]
Man wird wahrscheinlich versucht sein zu antworten: Aus all diesen anscheinend negativen und abstrakten Aussagen ist es schwierig, eine Politik, eine Moral oder ein Recht zu deduzieren. Ich denke das Gegenteil. Wenn sie sich diese Zweifel, Fragen, Reserven, Vorbehalte des Nicht-Wissens etc. ersparen, werden es sich die Politik, die Moral und das Recht (das ich hier nicht mit der Gerechtigkeit vermische) in der Täuschung und dem guten Gewissen bequem machen — und niemals weit davon entfernt sein, anderes als die Moral, die Politik oder das Recht zu sein oder zu machen. [...]
Wir besitzen kein gemeinsames Maß, das durch ein Drittes gegeben wäre. Das muß sich in jedem Augenblick neu erfinden, ohne Absicherung, ohne Hilfestellung durch ein Absolutes. Anders gesagt: Der Wahnsinn, ein bestimmter „Wahn“, muß jeden Schritt des Denkens belauern und im Grunde über das Denken wachen, wie es auch die Vernunft tut. [...]
Gewisse Leute werden sagen, daß Ihre Praxis der Philosophie in bezug auf eine bestimmte philosophische Tradition, die stets einen moralischen Teil hatte, ein wenig enttäuschend ist.
Nun, wenn das wahr ist, dann lassen Sie mich auf diese „Enttäuschung“ hoffen. [...] Warum hat man geglaubt, daß die Moral ein Teil der Philosophie wäre? War es beispielsweise gerechtfertigt, moralisch gerechtfertigt, zu glauben, daß eine Philosophie einen moralischen „Teil“, eine Region oder eine moralische Konsequenz, die Konsequenz eines philosophischen Wissens, mit einschließen müßte? Nun gibt es, wie ich eben schon bemerkte, weder eine Philosophie noch eine Philosophie der Philosophie, die sich Dekonstruktion nennen und aus sich selbst einen „moralischen Teil“ deduzieren würde. Aber das will nicht heißen, daß die dekonstruktive Erfahrung selbst keinerlei Verantwortung, nicht einmal eine ethisch-politische Verantwortung sei, ausbildete oder entwickelte. Wenn ich die Philosophie nach ihrer Behandlung der Ethik, der Politik, des Verantwortungskonzeptes befrage, würde ich nicht sagen, daß sich die Dekonstruktion nach einem noch höheren Begriff als dem der Verantwortung richtet, weil ich [...] genauso diesem Wert von Höhe oder von Tiefe mißtraue, sondern nach einer Forderung der Antwort und der Verantwortung, die ich für unnachgiebiger halte und ohne die in meinen Augen heute keine einzige ethisch-politische Frage die Chance hat, sich wieder oder neu zu stellen[...]
Aus dem Französischen
von Werner Kolk. Gekürzt aus ‘magazine littéraire' Nr.286, März '91
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