INTERVIEW: „Priorität hat aber in jedem Fall die Evakuierung“
■ Pastor Werner Lindemann aus Münster setzt sich für die medizinische Behandlung der Kinder von Tschernobyl ein
taz: Warum haben Sie Kinder aus Tschernobyl nach Münster geholt?
Werner Lindemann: Wenn man ganz gemein ist, könnte man sagen: Hier sitzt einer mit einem Helfersyndrom, und dort drüben sind Leute, die Radiophobie haben und eigentlich gar nicht evakuiert werden müßten, wie es in den 'Westfälischen Nachrichten' vor kurzem gestanden hat. Im vergangenen Jahr war ich auf der Berliner Konferenz „Auswirkungen der Reaktorkatastrophe“. Da sprach mich ein sowjetischer Journalist an, ob ich zwei Kinder aus Tschernobyl unterbringen könnte. Ich fragte mich, wieso sind es gerade diese beiden Kinder? Und warum wird das nicht öffentlich auf der Konferenz vorgetragen, vielmehr auf den Gängen, unterderhand? Ich habe mich sofort an Irina Gruschewaja vom Minsker Komitee „Kinder von Tschernobyl“ gewandt und mich nach den Auswahlkriterien erkundigt. Wenn ich mich schon darum kümmere, daß wir Plätze für Kinder schaffen, wollte ich, daß sie von denen vermittelt werden, die in die Dörfer und Städte der verstrahlten Region gehen. Ich weiß, daß dies beim Minsker Komitee der Fall ist und bat sie, mir Adressen zu geben.
Wann kamen dann die ersten Kinder zu Ihnen?
Im September vergangenen Jahres, Nailija und Dimitri. Erst einmal waren es zwei, eins war gestorben, das andere auch. Das war ziemlich schlimm, zuschauen zu müssen, wie die Zeit verrinnt, ehe Einladungen ausgesprochen und Visa beschafft sind, Therapiezeit verlorengeht und in der Zwischenzeit die Kinder sterben. Nailija ist inzwischen wieder zurückgefahren. Sie hatte einen Gesichtstumor, der operiert worden ist, Chemotherapie, Strahlentherapie. Dimitri ist noch hier.
Welche Kliniken haben denn die Behandlung übernommen?
Ich bin in die Uni-Klinik Münster zu Herrn Prof. Schellong gegangen. Er sagte, daß es ihm nichts nützt, wenn er ein paar Krankheitsgeschichten hat, er müsse den gesamten Kontext kennen, um verantwortlich reagieren zu können. Zum anderen ist der Weg, den wir beschreiten, eigentlich zu wenig medizinisch abgesichert. Er will als Mediziner das tun, was er als Mediziner tun kann.
Ist es bei einzelnen Behandlungen in der Klinik geblieben?
Es hat sich dann doch eine Zusammenarbeit ergeben. Ich habe der Uni-Klinik Krankengeschichten gegeben, worauf jeweils ein ärztliches Gutachten erstellt wurde. Die schickte ich nach Minsk zurück, damit Eltern, Ärzte oder das Komitee sich darüber klar werden, wie es um die Krankheit bestellt ist, und welche Behandlungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik zur Verfügung stehen. Oder es handelt sich um eine Erkrankung, die auch in Minsk behandelt werden kann. Wir wollten also wirklich die Fälle herausfinden, bei denen es angebracht ist, jemanden ins Ausland zu schicken. Denn da hängen auch Probleme dran, beispielsweise aus der Familie herausgerissen zu werden, den Kulturkreis zu verlassen.
In Münster werden nur vereinzelt Kinder in Kliniken aufgenommen. Jetzt geht es darum, im Umkreis Kliniken zu finden, wie in Datteln, Fechter, Iserlohn und Bonn. Der Chef der Coesfelder Klinik, Dr. Lang, hat sich übrigens bereit erklärt, Kinder, die zur Erholung kommen, zunächst einmal ambulant oder auch stationär zu untersuchen und dann zu entscheiden, in welcher Weise diese Kinder während ihrer Ferien medizinisch betreut werden müssen. Aus den Krankenpapieren wissen wir, daß einige schwer erkrankt sind, wo eigentlich gar keine Hoffnung mehr besteht.
Am Dienstag kamen wieder zehn Kinder, was wissen Sie über deren Gesundheitszustand?
Ich habe hier die Namensliste, da kommen die Tatjana, sieben Jahre, Anton, sechs Jahre, Andrej, 17 Jahre, Sergej, 16 Jahre, Jekaterina, vier Jahre, Irina, sieben Jahre, Elena, neun Jahre... Darunter Kinder mit Herzbeschwerden, Leukämie, Sehstörungen, und es sind einige dabei, die ernsthaft erkrankt sind und erst einmal in ein Krankenhaus müssen. Wenn das überstanden ist, sollen sie sich in einer Familie erholen. Wir rechnen mit einem Aufenthalt von einem Vierteljahr.
Aber danach müssen die Kinder wieder in den verstrahlten Gebiete leben, von der katastrophalen Lebensmittelversorgung ganz zu schweigen.
Ich erlebe, daß in den Köpfen der Leute folgende Überlegungen angestellt werden: Wir haben das Kind in die Bundesrepublik geschafft, es wurde hier behandelt, und es ist gesund geworden. Wenn es zurückkehrt, bricht die Krankheit wieder aus, und wahrscheinlich stirbt dann das Kind. Also wäre es doch besser, gleich einen Asylantrag zu stellen. Aber wir sind keine Schlepperorganisation, die die Menschen zum Auszug aus Belorußland motiviert.
Aber wo sollen die vier Millionen hin, die noch in den betroffenen Gebieten leben?
Was wir tun können ist, denen, die hier waren, eine Versicherung mitzugeben, wenn die Krankheit wieder ausbricht, daß sie sofort wieder bei uns behandelt werden können. Wenn politische Gruppen aus Belorußland selbst auf die Idee kommen und sagen: Es ist so katastrophal, stellt alle massenweise Ausreiseanträge, um so politisch Druck auszuüben, fände ich das viel sinnvoller.
Wie kann vernünftige Hilfe organisiert werden?
Ich kann das nicht allgemein sagen. Ich kann nur darüber reden, welche Konsequenzen wir daraus gezogen haben. Wir wollen mit ganz bestimmten Ortschaften im Mogiljower Gebiet, mit den sechs Dörfern Psudok, Swensk, Rosk, Tscherjakowska, Slawnja und Lebedewka, den Schulen und Kindergärten und der medizinischen Ambulanz zusammenarbeiten. In diesen Orten leben rund 300 Familien.
Im Juni fahren wir zu siebent dorthin, um Kontakt aufzunehmen. Aus diesem Gebiet kommen dann dreißig Kinder zur Erholung zu uns. Da erkunden wir auch, was dort dringend gebraucht wird. Ich denke, so ein Gebiet wie Münster und Umgebung bietet die Voraussetzung, sechs Dörfer mit dem Allernötigsten und kontinuierlich zu versorgen. Priorität hat aber in jedem Fall die Evakuierung aus den hochverstrahlten Dörfern und Städten. Deshalb unterstützen wir das Lehmbauprojekt, bei denen Familien im Norden Belorußlands eigene Dörfer wieder selbst aufbauen können. Interview: André Beck
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