piwik no script img

Drei Kilo Kunstgeschichte, bitte!

■ Elke Grapenthins opulente Aufarbeitung der Bremerhavener Kunst von der Stadtgründung 1827 bis heute

F. H. Marutzki, Alter Bauer, Holzschnitt, o. J.Katalog

Kunst und Bremerhaven? Viele rümpfen die Nase, wenn sie nach KünstlerInnen aus der Region gefragt werden. Daß in der ehemals blühenden Stadt mit ihrer auf Hafen und Werften ausgerichteten Monostruktur KünstlerInnen leben konnten und leben, dokumentiert jetzt die Kunsthistorikerin Elke Grapenthin in einem dickleibigen Kompendium, das für die 160jährige Stadt-Geschichte 138 KünstlerInnen vorstellt.

Mehrjährige Recherchen — finanziert über eine AB-Maßnahme — und ein rühriger, kleiner Verein haben die von Skepti

kern für unmöglich gehaltene Arbeit zustandegebracht. 300.000 von mehreren gewichtigen Mäzenen gesammelte Mark hat das sechs Pfund schwere Werk gekostet, und seine Herausgeber nennen bei der Präsentation im Deutschen Schiffahrtsmuseum stolz die großen Zahlen: 2.600.000 Buchstaben auf 560 Seiten, 360 Abbildungen, 132 s/w-Fotos.

Das vom Bremer Hauschild Verlag sorgfältig edierte Buch ist eine Augenweide. Die Abbildungen (Fotos: Joachim Fliegner) laden geradezu ein, in Elke Grapenthins Texten hin und her zu flanieren. Die Autorin setzt den 92 umfangreichen Einzeldarstellungen (und 138 Kurzbiografien) zwei größere Kapitel zur Geschichte der frühen Druckgrafik und zur Darstellung Bremerhavens in Gemälden auswärtiger Künstler voran. Ausführlich erläutert werden Bildmotive und Drucktechniken, hingewiesen wird auch auf die Geschichte örtlicher Verleger und Druckereien. Zu den Künstlern, die von auswärts an die Unterweser kamen, gehörten bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem Landschafts-und Marinemaler.

Elke Grapenthins chronologisch geordnete Darstellung beginnt mit dem Schriftsteller, Heimatforscher und gelegentlichen Maler Hermann Allmers (1821 — 1902), der in seinem „Marschenbuch“ von 1856 Bremerhaven ein frühes literarisches Denkmal gesetzt hat.

Alle Strömungen, die in den Kunstepochen des 19. und 20. Jahrhunderts eine Rolle spielen, waren auch in der regionalen Kunst-Szene vertreten. Für Maritimes steht der Lieblingsmaler der Bremerhavener, Paul Ernst Wilke (1894 — 1971), der 1922 die 16jährige Liselotte Bunnenberg heiratet, die später als Lale Andersen mit „Lili Marleen“ weltweit Karriere macht. Der Kulturredakteur Hermann Freudenberger charakterisierte ihn 1959 mit den Worten: „Was ihn als geborenen Bremerhavener so eminent fesselt, ist der große Himmel, die mächtige Weite, die scharfe Stimmung bis hinten zum Horizont und die hochgehobenen Nebel über den Marschen im Spätsommer wie im Winter. Für den süddeutschen Maler, der kein Salz in der Nase hat, ist die Landschaft unmöglich. Sie hat keinen Vordergrund, keine Mitte, keinen Hintergrund. Für Wilke ist sie jeden Tag ein neues Abenteuer.“

Die Arbeiten der heute in Bremerhaven lebenden KünstlerInnen, die das Buch dokumentiert, entfernen sich von den traditionellen Bild-Motiven, bleiben aber mit wenigen Ausnahmen der gegenständlich-figürlichen Kunst verhaftet.

Elke Grapenthins umfangreiche Dokumentation zeichnet die Kulturgeschichte einer Hafenstadt auf, in der zwar kein zweites Worpswede entdeckt wird, aber eine lebendige Kunst-Szene, die sich trotz störenden Teergeruchs ausbreiten konnte. Die spitzen Bemerkungen im Vorwort gegen das Ausstellungsprofil des Kunstvereins glossieren zwar einen provinziellen Kleinkrieg zwischen Regionalisten und den Trendfans des internationalen Kunstmarkts, unterschlagen aber, daß der Kunstverein mit seinem Hang zur großen weiten Welt wesentlich zur Anregung der Bremerhavener Szene beiträgt. Bestes Beispiel: Die hochentwickelte Graffitti-Szene, die in einer zweiten Auflage nicht vergessen werden sollte. hans happel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen