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Eine halbe Million Jobs auf der Abschußliste

Trotz des Golfkriegs geht es mit der westeuropäischen Rüstungsindustrie bergab/ Einem Drittel der Beschäftigten droht die Entlassung/ Abbau der Überkapazitäten und Konversion als Krisenkonzepte/ EG soll geordneten Rückzug übernehmen  ■ Von Herbert Wulf

Massenentlassungen, Firmenschließungen und Budgetkürzungen — dies sind die Merkmale der neuen Situation, der sich die europäische Rüstungsindustrie gegenübersieht. Nach der jahrzehntelangen Boomphase aufgrund des Kalten Kriegs und der Nachfrage aus der Dritten Welt, nähert sie sich nun einer Epoche, die fundamentale strukturelle Änderungen nötig macht. Eine drastische Reduzierung der Kapazitäten wird mittelfristig die Folge sein. Daran ändert auch die Golfkrise nichts. Obwohl einige Firmen zusätzliche Aufträge für Munition, Ersatzteile und Raketen an Land ziehen konnten, hat der Krieg den allgemeinen Trend — rückläufige Waffenverkäufe — nicht aufhalten können.

Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens ist gegen den Irak, der über Jahre wichtigster Importeur von Rüstungsgütern war, ein totales Waffenembargo verhängt worden. Vor allem französische, italienische und sowjetische Lieferanten und Steuerzahler wurden davon hart getroffen: Letztere müssen für die Schulden aufkommen, die der Irak im Lauf der letzten Jahre durch die exzessiven Waffenkäufe angehäuft hat, jetzt aber nicht mehr begleichen kann oder will. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrein haben zwar in der zweiten Hälfte des Jahres 1990 wesentlich mehr Waffen importiert als früher. Dies reichte jedoch nicht aus, die Verluste durch den Ausfall des Iraks zu kompensieren. Außerdem kamen die Neubestellungen vor allem der US- Rüstungsindustrie zugute.

Zweitens stammte der größte Teil der Ausrüstung und Bewaffnung, die die alliierten Soldaten im Golfkrieg verwendeten, aus vorhandenen Beständen. Einige Länder, darunter die USA und Großbritannien, beschlossen, das Verbrauchte nicht zu ersetzen. Drittens ist der Rückgang von Bestellungen bei den wichtigsten Rüstungszentren — Sowjetunion, USA und Westeuropa — Ausdruck für die angespannte Haushaltslage und eine sich ändernde sicherheitspolitische Situation in Europa. Die finanziellen Probleme wurden durch den Krieg nicht gelindert. Im Gegenteil: Die Regierungen kürzten sogar während des Kriegs Rüstungsprogramme.

Die Rüstungsfirmen sind unter doppeltem Druck: Einerseits werden die Militärbudgets gekürzt, andererseits gehen die Waffenexporte seit 1987 zurück — allein im letzten Jahr um ein Drittel. Dieser Trend wird sich trotz der Golfkrise fortsetzen, weil in den Ländern der Dritten Welt die Währungsreserven knapp werden. Hinzu kommt, daß die Rüstungsindustrie in Europa im Vergleich zur Sowjetunion und den USA wesentlich kleiner ist, was ihre Chancen im Konkurrenzkampf um die schwindenden Märkte beeinträchtigt. Auch im internen Vergleich zu ihren zivilen Partnern ist die westeuropäische Rüstungsindustrie eine kleine Branche. 70 der 100 größten Rüstungsbetriebe sind in Großbritannien, Deutschland und Frankreich angesiedelt. Dort werden auch fast 80 Prozent des Gesamtgeschäfts gemacht. 16 dieser Firmen — hauptsächlich britischer, aber auch französischer Abstammung — sind zu drei Viertel oder mehr vom Rüstungsgeschäft abhängig. Sie werden es schwerer haben als Firmen mit breiterer Produktpalette, auf zivile Produktion umzustellen.

Eher langfristige Auswirkungen werden sich aus dem Abkommen zur Reduzierung konventioneller Truppen (CFE) in Europa ergeben. Denn der Vertrag verlangt zwar scharfe Einschnitte im sowjetischen Militärpotential, aber nur begrenzte bei den NATO-Streitkräften. Doch obwohl die Chancen für einen zweiten, weitergehenden Abrüstungsvertrag seit dem Abschluß des ersten geschwunden sind, wirken sich die Vereinbarungen auf die Beschaffungsentscheidungen der Nato aus. Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und schwere Artillerie sind kaum mehr gefragt. Statt dessen wurde — auch durch den Golfkrieg — der Trend hin zu mehr beweglichen und flexiblen Einheiten verstärkt. Gleichzeitig bedeutet der CFE-Vertrag jedoch einen wesentlichen Einschnitt für die einzelnen Regierungen, weil sie nicht länger auf einer rein nationalen Basis Entscheidungen über die Größenordnung der Rüstungsproduktion treffen können.

Diese Veränderungen des internationalen Klimas in Europa haben einen Prozeß in Bewegung gesetzt, der eine stärkere Koordination der Streitkräfteausrüstung erfordert. Die bestehenden europäischen und Nato-Institutionen sind jedoch für diese Aufgabe nicht vorbereitet oder dafür autorisiert. Trotz der Begrenzungen in den Verträgen von Rom scheint die Europäische Gemeinschaft die wahrscheinlichste Kandidatin für diesen Job. Die Westeuropäische Union wird vielleicht übergangsweise als ein Bindeglied zwischen EG und Nato dienen. Es ist jedoch weiterhin unklar, ob die Regierungen bereit sind, einen Teil ihrer Souveränität an die EG oder andere Institutionen zu delegieren.

Wie sie sich auch immer entscheiden, für die westeuropäischen Waffenschmieden bedeuten diese Entwicklungen, daß sie ihre Produktion mittelfristig um 15 Prozent, möglicherweise bis Mitte der 90er Jahre sogar um 30 Prozent reduzieren werden müssen. Bereits in den letzten drei Jahren gingen 100.000 der insgesamt rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie verloren. Bis 1995 werden voraussichtlich noch einmal 350.000 bis 500.000 Jobs gestrichen werden. Zwar wachsen noch die Budgets für Forschung und Entwicklung. Und entscheidende neue Waffensysteme sind fast bis zur Produktionsreife entwickelt. Sie werden aber voraussichtlich nie in die Fertigung gehen.

Allerdings sind nicht alle Rüstungsfirmen von dieser Entwicklung im gleichen Maße betroffen. Am stärksten in Mitleidenschaft gezogen werden Werften und die Produzenten von landgestützten Waffen wie Panzern. Elektro- und High- Tech-Firmen hingegen profitieren vom Trend, Waffensysteme immer stärker mit Elektronik vollzustopfen. Die Zukunft der Flugzeugfirmen hängt von Entscheidungen über größere Projekte ab, die demnächst getroffen werden sollen. Die wachsende Nachfrage nach zivilen Flugzeugen könnte in diesem Bereich allerdings einen Ausgleich bringen. Andere Zweige haben sich bereits auf die teure Verschrottung von Waffensystemen spezialisiert und verdienen so an der Abrüstung.

Überhaupt reagierten größere Firmen, die auf europäischer oder globaler Ebene operieren, auf die Veränderungen mit unterschiedlichen Strategien: vor allem mit internationalen Fusionen und Aufkäufen, begleitet von Kündigungen, Betriebsschließungen sowie der Konzentration auf Sektoren, wo noch Nachfrage herrscht, und der Umstellung auf zivile Produkte. Kleinere, meist auf nationaler Ebene operierende Firmen haben diese Möglichkeiten in geringerem Umfang. Da aber die Rüstungsindustrie im Vergleich zu anderen, zivilen Branchen insgesamt klein ist, sind die makroökonomischen Auswirkungen der reduzierten Rüstungsproduktion eher unbedeutend. In bestimmten Regionen wie in Großbritannien, wo die Waffenherstellung eine wichtige Rolle spielt, kann die Krise jedoch ernste Folgen nach sich ziehen.

Firmen wie die französische Waffenschmiede Thomson setzen deswegen auf den Ausbau des Exportgeschäfts. Dies kann allerdings keine Lösung für die gesamte Branche sein. Die Ankündigung macht jedoch deutlich, wie wichtig die Harmonisierung der Exportgesetzgebung in Europa ist. Der politischen Forderung, die durch den Golfkrieg Auftrieb erhalten hat, steht der Druck der Industrie gegenüber. Letztere wird versuchen, sich mit dem Argument, Arbeitsplätze sichern zu müssen, gegen die Politiker durchsetzen. Als Kompromiß wird man vereinbaren, in Zukunft Länder wie den Irak als Empfänger von Waffenlieferungen auszuschließen. Staaten wie Israel, Brasilien oder Argentinien bleiben jedoch von dem Exportverbot weiterhin ausgenommen. Die Alternative wäre eine koordinierte, drastische Reduzierung der Produktionskapazitäten.

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