: Annäherungen im Ost-West-Abrüstungstango
Washington will Moskaus Interpretation des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa jetzt entgegenkommen Endgültige Verständigung über die VKSE-Fragen bleibt jedoch weiterhin Bushs Vorbedingung für ein Gipfeltreffen ■ Von Andreas Zumach
In die westöstlichen Bemühungen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung scheint Bewegung zu kommen. Nachdem das mangelnde Interesse für diese Themen infolge von Golfkrise und -krieg auch einen verringerten Druck auf Regierungen und Unterhändler bedeutete, Ergebnisse zu produzieren, soll nun jedoch zumindest der Vertrag über landstationierte konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) unter Dach und Fach gebracht werden.
Außenministertreffen an „neutralem Ort“
Nach Informationen aus dem Moskauer Außenministerium werden „in Kürze“ die Außenminister der USA und der UdSSR, Baker und Bessmertnych, an einem „neutralen Ort“ die Rüstungskontrollthemen beraten. In einem Antwortbrief Präsident Bushs auf ein Schreiben Gorbatschows vom 25. März, der nach Auskunft von Mitarbeitern des Pentagons und des Außenministeriums in Washington inzwischen nach Moskau geschickt worden ist, finden sich die ersten amerikanischen Kompromißvorschläge zu den — seit nunmehr fünf Monaten umstrittenen — Einzelheiten der sowjetischen Vertragsinterpretation. Wegen des Streits um die Auslegung des Vertrages ist das bereits auf dem KSZE- Gipfel im November letzten Jahres in Paris unterzeichnete KSE-Abkommen von den Parlamenten der 22 Vertragsstaaten immer noch nicht ratifiziert worden und damit noch nicht in Kraft getreten. Dabei war es seinerzeit als das europäische „Abrüstungswerk des Jahrhunderts“ gefeiert worden.
Unterdessen haben zwar die Delegationen aus den 16 Nato-Ländern und der sechs Staaten der — als Militärbündnis bereits aufgelösten — Warschauer Vertragsorganisation in der Wiener Hofburg schon Folgeverhandlungen begonnen, deren Ziel jetzt auch die Reduzierung von Soldatenzahlen sowie eine weitere Verringerung der konventionellen Waffen im Gebiet zwischen Ural und Atlantik ist. Doch immer noch, und bislang ergebnislos, feilscht eine amerikanisch-sowjetische Sondergruppe um die Streitfragen des ersten KSE- Abkommens.
Verstoß gegen „den Geist des Abkommens“
Drei Vorwürfe hatten die Amerikaner ursprünglich im Namen aller Nato-Staaten sowie mit weitgehender Unterstützung auch der meisten osteuropäischen Länder an die Adresse Moskaus erhoben: Die Sowjets hätten in den Wochen vor der VKSE-Unterzeichnung am 19. November rund 70.000 Panzer, Artilleriesysteme und Infanteriefahrzeuge hinter den Ural verbracht, um sie der Verschrottung zu entziehen. Dies sei zwar nicht vertragswidrig, verstoße jedoch gegen den Geist des Abkommes. Hinter dieser Kritik Washingtons stand die Sorge, die Sowjetunion werde östlich des Urals eine strategische Reserve aufbauen, die sie jederzeit auch wieder in ihren europäischen Teil verlagern könne.
Weitere 40.000 Waffensysteme, so der zweite Vorwurf, seien erst nach dem 19. November gen Osten verschoben worden. Diese Vertragsverletzung habe Moskau mit am Unterzeichnungstag vorgelegten falschen Daten über die eigenen Bestände westlich des Urals zu verbergen gesucht. Und drittens wolle die UdSSR drei landstationierte Armeedivisionen nachträglich in Seestreitkräfte umbenennen und so vom KSE- Abkommen ausnehmen. Denn das Abkommen erfaßt, entgegen der langjährigen Forderung der UdSSR und der anderen Warschauer Vertragsstaaten, nicht die Streitkräfte in den europäischen Gewässern.
Die ersten beiden Punkte sind nach Auskunft eines amerikanischen Regierungsvertreters inzwischen vom Tisch. Washington habe „ausreichende Zusicherungen aus Moskau erhalten“, wonach die legale Verlagerung von 70.000 Waffensystemen hinter den Ural vor der Vertragsunterzeichnung nicht dem Aufbau einer Reserve gelte.
In Washington wird inzwischen auch das Argument Moskaus akzeptiert, daß ein Großteil dieser Waffen durchaus zur Verschrottung vorgesehen ist, diese aber nicht innerhalb der im KSE-Vertrag vereinbarten Fristen bis Ende 1993 zu bewerkstelligen sei und deshalb außerhalb des Vertragsgebietes stattfinden müsse. Hinsichtlich der angeblich vertragswidrig verlagerten 40.000 Waffensysteme und des Vorwurfs falscher Datenvorlage hat sich die Bush-Administration in den letzten Wochen immer weiter nach unten korrigiert: zunächst auf 10.000, dann auf 7.000, inzwischen auf unter 2.000 Systeme.
In einem Schreiben an den Senat räumte Außenminister Baker inzwischen offiziell ein, daß sich die militärischen Aufklärungsdienste der USA geirrt haben. Sie hatten dem Weißen Haus noch Ende November längst überholte Daten über die sowjetischen Bestände westlich des Urals von Mitte September vorgelegt.
Weiter strittig hingegen ist das Ansinnen Moskaus, vor allem drei landstationierte Armeedivisionen durch Umbenennung in Seestreitkräfte sowie die Wacheinheiten bei den strategischen Raketenstellungen und einige Verbände des Küstenschutzes aus dem KSE-Vertrag herauszuhalten.
Umbenennung war Rücktrittsgrund
Ex-Außenminister Schewardnadse hat in jüngsten Interviews zu erkennen gegeben, daß die Umbenennung der drei Landdivisionen und die entsprechende Mitteilung an die anderen 21 KSE-Vertragsstaaten von den sowjetischen Militärs hinter seinem Rücken vorgenommen wurde. Dies sei ein entscheidender Grund für seinen Rücktritt im letzten Dezember gewesen. Ein an den Schlichtungsgesprächen mit den USA beteiligter sowjetischer Diplomat erklärte Ende März in Washington allerdings, diese Umbenennung sei nicht erst kürzlich erfolgt, sondern Teil der bereits 1989 begonnenen Umstrukturierung der in Friedenszeiten auf Land stationierten sowjetischen Seestreitkräfte.
In den zur Zeit in Washington formulierten Kompromißvorschlägen beharrt die Bush-Administration zum ersten Mal nicht mehr darauf, daß Moskau seine grundsätzliche Rechtsposition aufgibt, wonach weder die drei Divisionen noch die Küstenschutzverbände oder die Wacheinheiten für die strategischen Raketen unter das KSE-Abkommen fallen.
Kompromißangebot Washingtons
Washington ist bereit, als Kompensation für die drei Divisionen und die Küstenschutzverbände zusätzliche Reduzierungen in den entsprechenden Größenordnungen bei anderen, in denselben Regionen stationierten sowjetischen Landstreitkräften zu akzeptieren. Eine solche Möglichkeit hatte Gorbatschow in seinem Brief vom 25. März angedeutet. Für die Raketen-Wacheinheiten, die den Amerikanern weniger Sorge machen, weil sie über das ganze Land verstreut sind und keine zusammenhängende, kampffähige Einheit bilden, soll ein Einfrieren auf die jetzige Größenordnung ohne Ausgleichsreduzierungen an anderer Stelle vereinbart werden.
Eine endgültige Verständigung über diese VKSE-Fragen, verlautete in Washington, wird Präsident Bush in seinem Brief an Gorbatschow erneut zur Vorbedingung für das nächste Gipfeltreffen mit dem sowjetischen Präsidenten machen.
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