„Weg mit dem Spitzbart“

1956, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, den Unruhen in Polen und auf dem Höhepunkt des Aufstandes in Ungarn, kam es in den DDR-Betrieben zu Protesten und spontanen Streiks. Sie wurden totgeschwiegen. Doch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hat alles akribisch festgehalten. Eine Rekonstruktion der Ereignisse  ■ vonStefanWolle

Am 30. Oktober 1956 ereignete sich im Magdeburger VEB Schwermaschinenbau „Georgij Dimitroff“ ein Vorfall, der dem Ministerium für Staatssicherheit wichtig genug schien, ihn bis zum Politbüro der SED weiterzumelden. Zu Beginn der Frühschicht um sechs Uhr morgens legten dreißig jugendliche Arbeiter der Mechanischen Abteilung des Werkes B die Arbeit nieder. Als Ursache nennt der Bericht der Staatssicherheit einen Zeitungsartikel, der am Vortag im Magdeburger SED- Bezirksorgan 'Volksstimme‘ erschienen war. Dort war eine Grußadresse des FDJ-Kollektivs des Georgij-Dimitroff-Werkes an die Jugendleitung der Waggonfabrik „Wilhelm Pieck“ in Györ in Westungarn abgedruckt worden. In diesem „brüderlichen Solidaritätsschreiben“, wie es in der Zeitung genannt wurde, hatte es geheißen: „Liebe Freunde! Wir haben zu den Vorkommnissen in Eurer Heimat Stellung genommen und erklären uns mit allen fortschrittlichen Werktätigen Eures Landes solidarisch, die unter Führung der Partei den konterrevolutionären Kräften ein Ende bereiten. Wir versichern Euch, daß wir, die Jugend des Georgij-Dimitorff-Werkes, fest an Eurer Seite, an der Seite aller Volksdemokratien und der Sowjetunion stehen und es nicht zulassen werden, daß es den Feinden unserer Völker gelingt, ihre Pläne zu verwirklichen.“ Offenbar war die Solidaritätsadresse in die Welt gesetzt worden, ohne daß man die Jugendlichen, in deren Namen das Papier unterzeichnet worden war, befragt hatte. Dies war gemeinhin so Brauch, und in der Regel scherte sich niemand um die „brüderlichen Kampfesgrüße“, die permanent rund um den Globus geschickt wurden. Doch diesmal kam es anders. Aus dem westlichen Rundfunk war bekannt, daß am gleichen Tag das Volk auf den Straßen von Budapest und den anderen ungarischen Städten seinen Sieg feierte.

Stereotype Solidaritätsphrasen

Daß es ein trügerischer Sieg war, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen. Jedenfalls war die Regierung Imre Nagy praktisch auf alle Forderungen der Aufständischen eingegangen, und die sowjetischen Truppen hatten ihren Rückzug angekündigt. Bekanntlich war die Industriestadt Györ eines der Zentren der Aufstandsbewegung gewesen. Weder dort noch woanders konnte die Rede davon sein, daß „die Werktätigen unter Führung der Partei den konterrevolutionären Kräften ein Ende bereitet hätten“, wie es in der Magdeburger Grußadresse hieß. Im Gegenteil, die Arbeiter der großen Industriebetriebe waren in Györ, wie überall im Lande, das Rückgrat der ungarischen Volkserhebung. Die stereotypen Phrasen der Solidaritätserklärung standen im Gegensatz zu den offensichtlichen Tatsachen. Während dies im allgemeinen stillschweigend hingenommen wurde, hatten diesmal die Funktionäre offenbar den Bogen überspannt. „Die Jugendlichen verlangten eine Erklärung, wer die Grußadresse abgefaßt hat“, heißt es in dem Bericht des MfS, „und außerdem seien sie mit dem Inhalt nicht einverstanden.“ Die eilig zusammengerufenen Vertreter von FDJ, Partei und Staatssicherheit versuchten, die Arbeiter zu beruhigen. Dabei brachten die Streikenden zum Ausdruck, „daß die FDJ-Funktionäre des Betriebes von ihnen nicht anerkannt wurden“. Der Bericht endet mit dem etwas dubiosen Zitat: „Außerdem hätten die konterrevolutionären Elemente in Ungarn gesiegt.“ Kurz vor der Mittagspause wurde die Arbeit wieder aufgenommen.

Es wäre interessant zu erfahren, mit welchen Argumenten, vielleicht auch Drohungen oder Versprechungen die Arbeiter zum Einlenken bewegt worden waren. Auch wäre es aufschlußreich zu wissen, ob diese Arbeitsniederlegung vom 30. Oktober 1956 ein strafrechtliches Nachspiel hatte. Bekanntlich sind in jenen Monaten für weitaus geringfügigere „Vergehen“ Menschen für Jahre hinter Gittern verschwunden. Bekannt ist nur, daß es Anfang November in Magdeburg zu einer großen Anzahl von Verhaftungen kam.

Die Vorfälle in Magdeburg sollen bei den folgenden Überlegungen lediglich exemplarische Bedeutung haben. Insofern würden weitere Einzelheiten, so illustrativ sie immer sein mögen, keinen entscheidenden Beitrag für die Lösung des zentralen methedologischen Problems mehr leisten können. Die Frage lautet: War der fünfeinhalbstündige Streik von dreißig Betriebsangehörigen am 30. Oktober 1956 objektiv ein Bagatellvorgang, der nur durch das überzogene Sicherheitsdenken des MfS zu einem berichtswerten Vorgang hochstilisiert wurde, oder aber war der Streik im Magdeburger Schwermaschinenbau Symptom einer allgemeineren schwelenden Krise? War er möglicherweise sogar Teil einer untergründigen Protestbewegung, der die Gefahr in sich barg, der zündende Funke im offenen Pulverfaß einer unzufriedenen Arbeiterschaft zu werden?

Für den Historiker lautet die Frage generalisierend: Besteht die Gefahr, daß die Geschichtswissenschaft nachträglich zum Opfer der Praktiken eines allgegenwärtigen Spitzel- und Repressionssystems wird, indem sie die Einzelereignisse durch das Vergrößerungsglas einer politischen Geheimpolizei sieht, die ihre Existenzberechtigung ja nicht zuletzt aus solchen Vorfällen wie in Magdeburg zog? Sind also die Berichte des MfS Ausdruck eines neurotischen Sicherheitswahns, der die kleinsten Regungen von Opposition und Widerstand schon als Bedrohung ansah, oder eine relativ objektive Widerspiegelung der Situation im Lande? Das Problem beschränkt sich nicht auf den Herbst 1956, und es ist nicht ganz leicht zu lösen.

Der zitierte Bericht wurde in der Abteilung Information angefertigt, der späteren Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG), und ist damit Teil eines umfassenden Quellenbestandes, der zunächst einmal ganz deutlich von den sogenannten operativen Akten zu trennen ist. Letztere sind ihrem Wesen nach Polizeiakten. Sie enthalten Observationsberichte sogenannter Inoffizieller Mitarbeiter (IM), kriminaltechnische Analysen, Vernehmungsprotokolle, Ermittlungsergebnisse und anderes mehr. Die meisten dieser Akten sind unter dem Namen der betreffenden Person abgelegt und unterliegen auch in Zukunft einem strengen Personen- und Datenschutz. Abgesehen von einigen interessanten Ausnahmefällen ist die Masse dieses Aktenmaterials für die historische Forschung belanglos.

Einen ganz anderen Charakter tragen die Berichte und Analysen der Abteilung Information, die von Anbeginn für die Leitung des MfS sowie für die Führungsspitze der SED angefertigt wurden. Diese Berichte enthalten Material zur Stimmung der Bevölkerung, zur Versorgungslage, zum Umfang der Republikflucht, zur Tätigkeit der SPD in Ostberlin, zu westlichen Flugblattaktionen und zu vielen anderen Themen. Ein Teil der Berichte ist nach einem festgelegten Schema gefertigt: 1. Die Lage in Industrie und Verkehr, 2. Versorgung der Bevölkerung, 3. Die Lage in der Landwirtschaft, 4. Ereignisse von besonderer Bedeutung, 5. Anlagen. Das Schema wurde oft durchbrochen und hat sich im Laufe der Jahre gelegentlich geändert.

Heute noch richtig — morgen grundfalsch

Nicht alle Informationsberichte haben den gleichen Quellenwert. Oft handelt es sich nur um seitenlange Aufreihungen von Einzelvorfällen, die in Rubriken untergliedert sind (antidemokratische Tätigkeit, Feindpropaganda, Hetzschriftenverteilung u.a.). Oft sind ganze Informationen einem speziellen Thema gewidmet, und es finden sich darunter hochinteressante Analysen zu den unterschiedlichsten Themen der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR. Auch der Umfang der Informationen ist ganz unterschiedlich. Viele der Berichte umfassen nur zwei bis drei Seiten, gelegentlich finden sich auch Berichte von dreißig oder vierzig Schreibmaschinenseiten; sie wurden aufgrund einer großen Zahl von Einzelberichten erstellt. Oft enthalten sie Beispiele aus einzelnen Bezirken der DDR, die von den Verfassern der Informationen aus den eingehenden Berichten ausgewählt wurden. Dieser Zwang zur Zusammenfassung und Abstraktion bot der Subjektivität des Verfassers einen breiten Spielraum. Demgegenüber stand die Forderung, Tatsachen zu berichten und sich wertender Äußerungen zu enthalten. Hinzu kam, daß eine individuelle Meinung natürlich auch Risiken in sich barg, gerade in Zeiten sich schnell wandelnder politischer Rahmenbedingungen. Was heute noch richtig war, konnte morgen schon grundfalsch sein. Durch diese Widersprüche entstanden oft lange und unkommentierte Aufreihungen von besonderen Vorkommnissen der unterschiedlichsten Wertigkeit. Wirklich wichtige Vorgänge werden neben Nebensächlichkeiten berichtet, etwa die Inschrift „Weg mit dem Spitzbart“ auf der Bahnhofstoilette in Eilenburg. Offensichtlich war die Furcht groß, durch die Unterlassung einer Meldung nach oben sich dem Vorwurf mangelnder Wachsamkeit gegenüber den „Machenschaften des Klassenfeindes“ auszusetzen.

Es hat sich ein bemerkenswertes Dokument erhalten, das Aufschluß über die Unannehmlichkeiten gibt, die es nach sich ziehen konnte, wenn man einen „Anschlag des Gegners“ nicht ernst genug genommen hatte. Gleichzeitig wirft dieser Vorgang ein Schlaglicht auf die Situation des Jahres 1956. Am 16. Juli 1956 verschickte Generalleutnant Erich Mielke, damals noch Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, ein Schreiben an alle Leiter der Bezirksverwaltungen sowie alle Leiter der Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen des MfS. Allen Untergebenen zur Warnung wird darin ein Vorkommnis in der kleinen Landgemeinde Cotta (Kreis Pirna) am Rande des Elbsandsteingebirges geschildert, welches in der Bezirksverwaltung Dresden zunächst nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden hatte. Als Anlage schickte Mielke die Information Nr. 67/56 mit, in welcher die Ereignisse im Landkreis Pirna ausführlich geschildert werden. Zunächst aber wird die Bezirksverwaltung Dresden in scharfer Form abgekanzelt: „Die Ereignisse hatten ihren Ausgangspunkt bereits am 7.6.1956... Jedoch hat das Ministerium erst auf Umwegen — nicht über die zuständige Bezirksverwaltung — von den Ereignissen in Cotta, die weit über den Rahmen dieser Gemeinde hinausgehen, am 12.7.1956 Kenntnis bekommen. Die Gründe, die zur Unterlassung dieser Meldung führten, werden vom Ministerium untersucht... Das Ministerium hat bereits am 12.6. eindringlichst darauf hingewiesen, daß alle wichtigen Ereignisse — selbst unüberprüfter Art — wenn sie von Bedeutung sind, sofort zu melden sind. Ferner hat die Leitung des Ministeriums in diesem Schreiben alle leitenden Funktionäre und Mitarbeiter darauf hingewiesen, wie der Feind, wenn er auch anfangs nicht der Organisator ist, sich einschalten und aus den Ereignissen eine feindliche Provokation machen kann. Die Bezirksverwaltung hat in diesem ernsten Fall nicht rechtzeitig erkannt, welche Gefahren politischer und operativer Art sich aus den Ereignissen in Cotta entwickeln können. Es wird nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß sowohl auf operativer wie auch Parteilinie alle Mitarbeiter anhand dieser Vorkommnisse geschult und belehrt werden, damit bei ihnen das Verständnis entwickelt wird, welche Bedeutung einzelne lokale Vorkommnisse bekommen können. Es kann nicht immer dem Sachbearbeiter, auch nicht einmal nur der Leitung der Bezirksverwaltung allein überlassen bleiben, zu beurteilen, welche Bedeutung solche Vorkommnisse haben können.“ Klarer kann man den Befehl zum Verzicht auf eigenständiges Denken kaum formulieren. Die hier eingeforderte strenge Subordination war eine der Ursachen für den ständigen Verfall der Effizienz dieses riesigen und allgegenwärtigen Apparates. Die konsequente Durchführung des oben geschilderten Prinzips mußte zwangsläufig dazu führen, daß der Informationsdienst an den eigenen Informationen erstickte.

„Jedem Bauern ein Gewehr in die Hand“

Doch zurück zu den Ereignissen in Cotta. Am 7. Juni 1956 fand dort eine Versammlung des Vereins der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) und der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft (BHG) statt. Bereits am Vortage wurde während einer „Blaufahrt“, wie es der MfS-Bericht nennt, „von den Bauern ... in provokatorischer Art und Weise auf die DDR geschimpft...“. Einer der Bauern forderte, man müsse die Sollrückstände von 1955 erlassen. Falls dies nicht geschehen würde, meinte er laut Bericht: „... müssen wir es wie im Bauernkrieg machen. Jeder Bauer muß ein Gewehr in die Hand bekommen. Sobald es wieder einen 17.Juni gibt, müssen wir Bauern zusammenhalten.“ Besagter Bauer führte dann auch auf der erwähnten Versammlung vom 7. Juni das Wort. Bereits bei der Vorlesung des Referates „Die Aufgaben des 2. Fünfjahresplanes in der Landwirtschaft“ kam es zu ironischen Zwischenrufen und Gelächter. Dann wurde ein Brief an die Volkskammer mit der Forderung nach Streichung der Sollrückstände von 42 Anwesenden unterschrieben. Im Verlaufe des Juni kam es zu weiteren Versammlungen, auf denen die Forderungen wiederholt wurden. Auf einer Versammlung am 10. Juli schließlich wurde gedroht, falls bis zum 21. des Monats keine Antwort aus Berlin eingegangen sein sollte, würden die Bauern in die Kreisstadt Pirna ziehen und dort auf dem Ernst-Thälmann-Platz demonstrieren. Weiter werden in dem Bericht zahlreiche Einzelstimmen zitiert. Beisielsweise meint der Wirt der örtlichen Gastwirtschaft, „daß die Stimmung unter den Bauern wie vor dem 17. Juni sei“. Auch der erwähnte Wortführer des bäuerlichen Unwillens nahm auf den 17. Juni und auch die Situation in Polen Bezug: „Wir sind nicht gewillt“, meinte er öffentlich, „einen 17. Juni oder ein Posnan... zu machen, indem wir uns vor die Panzer stellen. Wir haben andere Mittel.“ Die Pointe der Geschichte besteht darin, daß das 28. Plenum des Zentralkomitees der SED Anfang September 1956 schließlich die Streichung der sogenannten Sollrückstände den örtlichen Behörden freistellte.

Der Drang zur vollständigen Erfassung der sogenannten Feindtätigkeit trieb seltsame Blüten. So war es üblich, in seitenlangen Listen das Auftauchen von westlichen Flugblättern nach Herkunftsorganisation, Anzahl, Ort des Auffindens und so weiter minutiös zu erfassen. Diese Flugzettel und deren zumeist recht simple Botschaft wurden von der Führung des MfS offenbar recht ernst genommen. So ist es bei der Arbeit an den Akten des Staatssicherheitsdienstes weniger der Mangel an Quellen, der den Historiker vor Probleme stellt, als deren Überfülle.

(aus: „Politik und Zeitgeschichte“ B 5-91 vom 25.1.1991)

Fortsetzung am 29.4.