Warnstreiks beleben das Polittheater

■ Der gemeinsame Aufruf der Kontrahenten Jelzin und Gorbatschow vom Mittwoch, alle Streiks zu beenden, hatte nichts gefruchtet: Millionen von ArbeiterInnen in der gesamten Sowjetrepublik Rußland legten

Warnstreiks beleben das Polittheater Der gemeinsame Aufruf der Kontrahenten Jelzin und Gorbatschow vom Mittwoch, alle Streiks zu beenden, hatte nichts gefruchtet: Millionen von ArbeiterInnen in der gesamten Sowjetrepublik Rußland legten am Freitag eine Stunde lang die Arbeit nieder.

Allein über 500 Moskauer Unternehmen und 180.000 Arbeitskollektive in ganz Rußland mit ihren cirka 40 Millionen Mitgliedern nahmen gestern abend an einem einstündigen Warnstreik teil. Der Streik — der nur als eine von verschiedenen Protestaktionen empfohlen worden war — äußerte sich dabei in einer Verkürzung des Arbeitstages um eine Stunde. Die Bewegung „Demokratisches Rußland“, die Boris Jelzin unterstützt, hatte am Vorabend noch einmal ihre Entschlossenheit zu der Aktion bekräftigt — dies, obwohl die Unterschrift des ersten Mannes Rußlands gemeinsam mit derjenigen Präsident Gorbatschows eine am Mittwoch veröffentlichte Erklärung ziert, in der die beiden gemeinsam mit den Chefs acht weiterer Republiken dazu aufrufen, alle Streiks zu beenden.

Anders als die Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Rußlands, FNPR, die sich ebenfalls an der Aktion beteiligte, unterstrich die Bürgerbewegung dabei ihre Solidarität mit den politischen Zielen der streikenden Bergarbeiter, die u.a. den Rücktritt des Präsidenten und der Regierung der UdSSR und die Auflösung des Kongresses der Volksdeputierten fordern. Auch sonst hatte das Dokument bisher keinen merklichen Einfluß auf die Streikaktivitäten in der UdSSR. Obwohl es Anzeichen dafür gibt, daß die Bergarbeiterstreiks in den nächsten Tagen zu Ende gehen könnten, steht in vielen Kohleregionen Rußlands die Streikfront nach wie vor. In Belorußland wurden die Streiks und Meetings in der gewohnten Form fortgesetzt; in dieser Republik und auch in der Ukraine streikten zahlreiche Hochschulen, in der Ukraine nach wie vor die Bergleute. Das Streikkomitee in der weißrussischen Stadt Minsk erklärte, der politische Streik solle noch am Wochenende ausgesetzt werden und am 21. Mai wieder aufgenommen werden.

Diese hatten sich noch am Vortage mit Unverständnis über das gemeinsame Vorgehen von Jelzin und Gorbatschow geäußert und in zum Teil recht scharfen Äußerungen eine Erklärung von Jelzin gefordert. Am Freitag teilte der Vorsitzende des überregionalen Koordinationsrates der russischen Bergarbeiterstreikkomitees, Anatolij Malychin, unserer Redaktion lediglich mit, daß er sich noch nicht genügend informiert fühle und einer Tagung seines Gremiums am Sonnabend nicht vorgreifen wolle: „Auf jeden Fall streiken wir, bis unsere Forderungen erfüllt sind.“

„Bis zu einem gewissen Grade ist dies ja eine Erfüllung der Forderungen der Bergleute, wenn sie auch nicht sofort, sondern erst in sechs Monaten wirksam werden soll“, meinte Ljew Ponomarjow, einer der Co-Vorsitzenden der Bewegung „Demokratisches Rußland“ zu dem umstrittenen Abkommen. Auch Boris Jelzin stellte in Aussicht, daß am Wochenende eine Lösung gefunden werde, die den Kumpeln erlaube, sich „elegant aus dem Streik herauszuziehen“. Gorbatschow habe sogar darauf gedrängt, einen neuen Unionsvertrag schon im Mai zu unterzeichnen, aber die Repräsentanten der Republiken hätten eine derartige Hast entschieden von sich gewiesen. Diese Äußerungen fielen am Donnerstag abend in einer geschlossenen Sitzung des Obersten Sowjet, an deren „Geschlossenheit“ die russische Regierung offenbar nicht allzu interessiert war. Freitag früh pfiffen die Spatzen das Ergebnis von den Moskauer Dächern. Der russische Parlamentspräsident verwahrte sich entschieden gegen den Vorwurf, Gorbatschow gegenüber seine Prinzipien geopfert zu haben. Der Kompromiß sei die letzte Chance, das Land vor dem nahenden Chaos zu retten, argumentierte er. Außerdem hätten ihn zu diesem Schritt auch seine Reisen ins westliche Ausland bewegt, in deren Verlauf ihm klargeworden sei, daß man im Westen mit einzelnen Sowjetrepubliken für sich genommen einfach nicht rechne. Erstmals habe Gorbatschow die Souveränität der Republiken, das Freiwilligkeitsprinzip bei der Unterzeichnung eines Unionsvertrages und das Recht Armeniens, Georgiens, Moldawiens und der baltischen Staaten auf Austritt aus der Union anerkannt. Nach der Annahme einer neuen Verfassung würden neue Unionsstrukturen gebildet.

Viele Deputierte verstanden Jelzin bei diesen Ausführungen in dem Sinne, daß die neuen Organe der Union und der neue Unionssowjet direkt gewählt werden sollen und nicht mehr den von der KPdSU dominierten Filter des Kongresses der Volksdeputierten zu passieren haben, der offenbar abgeschafft werden soll.

Als besonders wichtigen Verhandlungserfolg stellte Jelzin heraus, daß die kleinen Autonomen Republiken und Gebiete den Unionsvertrag im Rahmen der Sowjetrepubliken unterzeichnen sollen, auf deren Territorium sie sich befinden. Auf die Frage, was geschähe, wenn Gorbatschow ein weiteres Mal „kneift“, antwortete der russische Parlamentspräsident: „Dann werden die neun Republiken den Vertrag ohne Gorbatschow unterzeichnen.“

Im Detail verweilte er bei zahlreichen Konzessionen an die Republiken im Bereich der Wirtschaft. Insbesondere sollen diese selbst erwirtschaftete harte Währungen für sich behalten und selbständig Außenhandel treiben dürfen. Gerade vor den möglichen wirtschaftlichen Folgen des „historischen Kompromisses“ warnte indessen nach Bekanntwerden von Jelzins Ausführungen der Direktor des Stockholmer Instituts für Sowjetische und Osteuropäische Wirtschaft, Aslund. Er bezeichnete den neuen Pakt zwischen Jelzin und Gorbatschow als „absoluten Wahnsinn“ und fügte hinzu: „Das sieht ganz nach dem bisherigen Gorbatschowschen Kurs aus, die Tiefe der Krise zu verdecken, anstatt es mit ihr aufzunehmen.“ Aslund kritisierte insbesondere, daß das Dokument für die versprochene Rücknahme der erst kürzlich eingeführten fünfprozentigen Mehrwertsteuer auf Verbrauchsgüter und die versprochenen Preissenkungen keinen Finanzierungsersatz für die öffentlichen Haushalte anböte. Demnach müsse das Haushaltsdefizit der Sowjetunion, das schon jetzt 15 bis 20 Prozent des Bruttosozialproduktes betrüge, rapide weiter wachsen. Dies erinnere an die Situation Polens im Jahre 1981 und lasse letztlich eher eine autoritäre Lösung der Machtfrage wahrscheinlich erscheinen.

Daß der Handel Jelzins und Gorbatschows diesem auf dem soeben beendeten ZK-Plenum seitens der größten Republiken Rückendeckung verschaffte, geht aus einem Bericht des 'Moskowskij Komsomoljez‘ hervor. Demnach setzten sich gerade die Präsidenten von Kasachstan und Kirgisien, Nasarbajew und Askajew sowie der Ukraine bei den heftigen Debatten für den Generalsekretär ein. Ansonsten gilt hier der Reim, den sich die 'Komsomolskaja Prawda‘ machte: „Die Welt verlor ganz das Interesse am Plenum der KPSS.“ Barbara Kerneck, Moskau