BERLINERPLATTENTIPS: Empfängnishilfe
■ »Radio 100 im Exil III — Das Nach(t)programm«
Es könnte sein, daß später einmal, um das Jahr 2006 herum, im gekrönten Metropolen-Berlin von Radio100 gesprochen wird wie früher von Allegorien:
Von den Spendenaufrufen, die für einen guten Zweck weder Thoelke, Rosenthal noch Heck mit showmasternder Penetranz besser hätten anpreisen können; vom ruhelosen Sendechaos im nächtlichen Äther und vom Tagesprogramm, über dessen Wellenlänge sich ständig lautstark Schamonis Schultheiss-Radio schob; von jungen Aufmüpfern und dem dicken Giganten. Schon jetzt hat der Sender aus der Potsdamer Straße Mediengeschichte geschrieben. Noch ist die kostbare Frequenz jedoch nicht für immer an den Kommerz verloren, noch schwebt das Vergabeverfahren im Kabelrat, noch produzieren die MitarbeiterInnen Kassetten im Exil.
Die dritte Ausgabe des Magazins auf Konserve ist etwas für durch und durch eingefleischte Fans. Die dort zu Wort kommen, haben in den vergangenen Jahren mit meist obskurem Programm in den Nächten genervt oder Freude bereitet. »Kitch as Kitch can« eröffnet die erste Seite: »Zuckersüß«. Das sind Leslie, Else und Ossi mit einer bunten Mischung aus Schalk, Kabarett und eben Kitsch — extrem und bizarr. Gleich zu Beginn erklingt Olivia Molina, dann folgt singenderweise Uschi Glas, deren Gesäusele den schauspielerischen Leistungen der Jugendzeit in nichts nachsteht. Höhepunkt der eingespielten akustischen Wucherungen ist die parodistische Moritatenversion des Uralt-Schlagers von Juliane Werding. »Der Tag, als Radio 100 starb«, da wächst der Moderationschor im Studio über sich hinaus, klagt über die eigene Selbstlosigkeit und den Idealismus, die dann so arg enttäuscht wurden. Nun ist das Gespann schlauer geworden, das nächste Mal wird »auf die Fresse gehaun«. Noch kurz ein mittsiebziger Schmuserenner angehängt, der »Rocky« im Titel führt und Liebe, Sex und Tod besingt, dann nimmt ein anderes Team den deutschen Schlagerfaden auf und strickt weiter am Programm: Michael Holms »Mendocino«, gefolgt vom Riesenhit aus dem Teeniegrusical »Grease« und Suzanne Vegas »Tom's Diner« im radioeigenen Ostgebiete-Remix. »Pommern, Schlesien, Polen«, dazu der Kommentar: »Das war gegen Deutschland« — wer hätte das gedacht. Zum Glück versöhnt Alexandra mit ihrem Lied »Aus« am Ende für die Vielzahl der duldsam ausgestandenen Bandeinheiten. Für Werbeversessene gibt es dann den Brainshop aus der Mittenwalder Straße mit dem Spot über eine »Mindmachine« als Anspieltip.
»Zartbitter« wird der Sendefluß auf der zweiten Seite fortgesetzt. Die hungrige Susi vom Mega-Mushroom-Programm versucht da vergeblich, einen bösen Witz über verfressene alte Menschen zum besten zu geben, spielt dafür aber eine wirre »Manic Depression«-Version im »Hendrix- spielt-Gitarrenschleifen-aus-dem-Jenseits«- Mix. Alles kreist im folgenden um das Thema Hunger, ob als Sixties-Dada-Collage mit RIAS-2-Chartbuster-Monsterstimme oder im fordernden Kastratenchor: »Gib mir was zu essen!«
Im Zwiespalt zwischen Authentizität und Dilettantismus sind vor allem die häufigen Live- und O-Ton-Einspielungen angesiedelt. Als kleine Kostbarkeit erklingen die Rattlesnakemen bei einem Blockshock-Auftritt der Buzzcocks — den Club für Party und Pogo an der Hasenheide gibt es leider auch nicht mehr.
Was man noch erfährt: daß Heino (der einzig wahre) eine Kneipe mit dem Namen »Haifischbar« in Portugal aufmachen wird; daß ein Kleinkind singend sich zum Punk bekennt; und daß Johannes Beck ein Spendenkonto für den alternativen Sender sein eigen nennt. Dann folkt/lore, aus Afrika, und eine letzte Message. Unter ausgiebigem Hintergrundhandgetrommele wird eine Exilniederlassung im Ostteil bekanntgegeben: Schliemannstraße 23 in Prenzlauer Berg. Harald Fricke
»Radio 100 im Exil III — Das Nach(t)programm« im Infoladen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen