: Das Echo vom Altenberg
Nachrichten aus einem Siechenheim ■ Von Gabriele Goettle
Wie es unseren Alten in den Siechenheimen geht, ist hinlänglich bekannt. Weitgehend unbekannt aber ist das Repertoire an Tricks, die sie erfinden, um sich vor dem totalen Dahinvegetieren auf dem sozialen Todesstreifen zu schützen.
Frau Marewsky beispielsweise, 1905 in Berlin geboren, ehemals Hausfrau, „liegt“ seit drei Jahren auf der Station und geht nächtens zwischen Bett und Waschbecken unablässig hin und her, gestikuliert heftig und „spricht mit sich selbst“. Sie übernimmt meist mehrere Rollen auf einmal, spricht den jeweiligen Part mit verstellter Stimme und vergißt so gut wie nie, die Reihenfolge einzuhalten. Auf diese Weise versammelt sie ihre gesamte Familie um sich, samt Nachbarn und Bekannten. Wenn der Sohn an den hohen katholischen Feiertagen zu Besuch kommt, erkennt sie weder ihn noch die Enkel.
—Wo sind meine 160? Du mußt mir das Geld geben, sich steigernd du mußt mir das Geld geben, du mußt mir das GELD geben, du mußt mir das Geld geben!
—Was haste gesagt, du Arschzicke du?
—Du hast mich genau verstanden, Else! Ich geh weg, und nie wieder komm ich zu dir. Du weißt, ich habs so mit dem Herzen, jammernd was hab ich noch, ich hab ja nichts mehr von der Welt... Sowas mache ich nie wieder. Einen Pfennig, den geb ich keinem Menschen mehr! Das war das Fahrgeld von Mutter, die 160...
—Das Fahrgeld? Das wußte ich ja nicht...
—Genau! Ich mach das nicht mehr mit, ich gehe. Ich bin ja keine junge Frau mehr, und der will mich hier rasieren, der Strolch! Dann hacken Sie mich doch lieber gleich mittendurch, machenses doch, bitteschön! Die ganze Scheiße hier können Sie auch gleich mit auffressen, von mir aus!
—flehend und flüsternd Tus nicht, bitte...
—Halt den Mund! Aber der Mann, der wird mal blind werden!
—Der weiß das nicht, ich werds ihm sagen...
—Nichts wirst du! Ich will meine 160 haben, du olle Sau du... hat er gesagt zu mir! Ich geh nach der Polizei und erklär denen mal, was der mir angetan hat... Ich brauch ja nicht heute gehen, ich geh morgen früh und erkläre, mir ist schlecht geworden...
—Mein Gott, die geht ja wirklich, ich dachte, das ist Spaß.
—brüllt Das soll Spaß sein? Du machst mich ja verrückt. Du kannst meinetwegen verrecken! Hier steht die Wand, und die kommt raus!
—verzagt Ham Sie jetzt schon Ihre 160, oder?
—brüllt Wo soll ich sie denn herhaben? sanft Sehnse mal, ich muß ja ooch fressen wie alle anderen...
—Gibts sonst noch was?
—Gib mir meine 160, eh ichs vergesse.
—Das ist nicht vergessen!
—Else, gib mir jetzt endlich das Geld! Wo soll ich denn hingehen ohne alles?
—Bleiben Sie doch hier!
—HALT!! Hier ist Frau Marewsky, und nicht da drüben!
—Wo sind sie denn alle, wo sind denn die andern alle?
—Ja, wo ist Karl? Wo ist Ernst? schadenfroh und leise Jetzt hab ich sie wahnsinnig gemacht, hihi...
—Sie Arschzicke!
—Else! So, ich zieh mich jetzt an, ich bin ja im Nachthemde, und dann geh ich bei die Polizei. Geht hinaus in den Flur und trifft dort auf die Nachtwache
Nachtwache: Na, Frau Marewsky, können Sie nicht schlafen? Jetzt gehen wir mal schön wieder ins Bett zurück!
—brüllt Was wollen SIE von mir? Ham Sie ein Kind oder ham Sie keins? Dann schlage ich es tot, das Stück Scheiße, das! Na, das wird man doch wohl sagen dürfen...
Nachtwache: Schhht, leise, Sie wecken ja alle auf, es ist mitten in der Nacht, jetzt kommen Sie mal, legen Sie sich hin!
—empört Ich kenne Sie ja gar nicht! Die Leute müßten sich ja eigentlich schämen, die hier einfach reinkommen, ohne anzuklopfen. Ich habe hier nämlich einen Sohn, der ist über 100 Jahre alt, und der hat mich bestohlen...
Nachtwache: Na sowas...
—Eben. Und nun bin ich ganz alleine auf der Welt, aber ich kann nicht mal sagen, daß der tot ist...
—flüsternd, mit sehr leiser Stimme Die will mich als tot erklären, das ist ja eine Mutter, na danke...
—entsetzt Was hatter denn — der spricht ja mit mir, der Hund, der dreckige! Willi! Bleib hier, ich warne dich!!
Nachtwache: So, nun ist aber genug Krach gemacht, jetzt herrscht hier Ruhe!
—mit normaler Stimme Ja, ja, ist schon gut, gute Nacht, Schwester. Schwester geht ab und schließt die Tür
—brüllend Gib mir meine 160! Weiter will ich nichts, dann geh ich auch schlafen...
Pause
—... können wir denn nicht mal Licht anmachen, ich tappe hier im Dunkeln...
—Nee, das ist kaputt!
—Ach, kaputt ist es schon wieder... geht und öffnet die Tür zum Flur, damit ein wenig Licht ins Zimmer fällt
—Ich werd Ernsten das alles erzählen, wenn er kommt, und dann gibts aber Kloppe, sag das dem Willi!
—Ha! Oben isser rangegangen an meinen Tisch, an die 160, das Miststück, der Strolch... Guck mal da, die Sonne kommt!
—Quatsch! Ernst kommt. Na, jetzt gibts dicke Luft...
—brüllt Nich mit mir! Ich will meine 160 wiederhaben, wo ist das Geld? Das werde ich alles meinem Mann sagen...
—flüsternd Wennse still ist, Ernst, dann gehste wieder...
—empört Wenn ich still bin? Du bist ja verrückt, du dummer Junge, die Leute gucken ja schon nach dir...
—Weil er doof ist, deshalb!
—mit tiefer Stimme Halt deine Fresse, Mädel, jetzt fängst du auch noch an, du Miststück du! Ich weiß, wo die wohnt...
—flüsternd Heute abend geht sie nicht weg, da isse zu Hause die ganze Zeit...
—Sie müssens ja wissen! Aber ich geh weg, jetzt ziehe ich mich an und geh aufs Amt, oder Sie geben mir meine 160, dann bleib ich zu Hause und werd Ihnen was scheißen!
—kichernd Jetzt isse stinksauer, sie steht ja ohne jeden Pfennig da...
Beide Nachtwachen gehen an der offenen Zimmertür vorbei und unterhalten sich
—Was sind denn das für Leute hier in meiner Wohnung? Man kann keinen Moment die Tür offenlassen, kein Wunder, wenn alles wegkommt!
—Na siehste!
—Nee, Else, so dusselig bin ich nicht! Da kannste machen, was du willst, ich will meine 160 wiederhaben... Pause... Ernst! Soll ich denn so zugrunde gehen, ich geh zugrunde hier... ich hab dir das Kind geboren und hab mit den Tieren gespielt... jetzt hab ich gar nichts mehr. Die 160 möchte ich am liebsten aus dem Fenster werfen!
Die Nachtwache kommt herein, um die Bettnachbarin frisch zu windeln
Bettnachbarin: Au, aua, ach...
Nachtwache: Da ist ja alles schon wieder wund...
—Was machen SIE denn hier!
Nachtwache: Nachtdienst.
—Wozu das denn?
Nachtwache: Damit sie und die anderen nachts nicht alleine sind.
—Ach so, weil ich alleine bin. Das ist freundlich von Ihnen. Sehnse mal, Schwester, es gibt nämlich Menschen, die sind Tiere!
Nachtwache: Und was machen die?
—Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, ich darf es nicht...
Bettnachbarin: Au, aua, ohhh, auweh...
Nachtwache: Ich jedenfalls bin kein Tier.
—streng Hab ich gesagt, daß Sie ein Tier sind? Sehnse!
Nachtwache: Also, dann weiterhin gute Nacht. Geht ab und schließt die Tür
—äfft nach Gute Nacht, gute Nacht... die Idiotin kenn ich! Ich will leben, leben, LEBEN!! Hier kann man nicht leben, alles ist voll... voller Leute... komm her und gib mir meine 160! Dann kann ich weg.
—Hier, ich leg dir die 160 auf den Tisch da, so...
—Ach danke, Else, ich hab ja nich einen Pfennig Geld einstecken...
—Warte, ich bring sie dir, Moment, grade hab ich keine Latschen an, alles kaputt... gleich.
—So, unterschreib mir das hier, und dann ist es gut, mein Gott, Else, hat mich das aufgeregt!
—lockend Komm her, ich geb dir 200...
—brüllt empört 200? Was soll denn ich hier drin mit 200?! Gib mir meine 160 in die Hand, und dann geh ich nach Hause!
—Was soll ich nur machen?
—Else, du bist jetzt mal ruhig! Karl, ich will sofort von dir wissen, wo du das Geld hingetan hast!
—tiefe Stimme Else hats mir doch gegeben... nu isses weg...
—Karl, das ist nicht wahr, ich hab dir nichts gegeben, er lügt!
—tiefe Stimme Wir müssen erst mal raus hier — alle!
—Ich darf hier nich raus, ich muß drinnen bleiben, aber ihr verschwindet, raus mit euch! Hilfe, Hilfe!
—Hilfe hat sie gerufen, jetzt bin ich verloren.
—Quatsch, Else! Komm her und gib mir mein Bild. Ich will gar kein Geld mehr... das Bild kann ich wenigstens kaputtschlagen.
Bettnachbarin: Aaaaach, au, auaaua, ohhhh, au...
—Lange mach ich das nich mehr mit, noch bin ich ja gemütlich, aber wenn mir mal der Faden reißt... dann geht einiges kaputt, Mutter, du bist mein Zeuge...! Else, komm doch mal her, zieh Mutter mal Schuhe an, die hat ja blanke Füße!
—Ich auch...
—Und ich? Wo soll ich nur hingehen... wo... wo hab ich denn mein Nest? Und meine Schweser... ich hab ihr gesagt, sie soll die 160 abholen, aber wie denn, sie hat doch kein Kleid?
—Dann gehn wir eben nackend!
—Else! Wo sind denn meine Strümpfe hin? Ich hab hier keine
Strümpfe, kein Garnichts! Und was
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
willst du schon wieder von mir, du Aas? Gib mir meine 160!
—Jetzt geh endlich!
—Ich gehe!
—hochdeutsch Sie! Hallo, was ist denn mit Ihnen, Sie sehen ja so komisch aus, wollen Sie sich vielleicht das Leben nehmen da oben?
—lacht Das Leben? Nee, Mensch, das nehm ich mir nicht. Nie mehr mach ich sowas, ich schwörs bei meiner Mutter, vielen Dank und gute Nacht!
—Sie müssen ja wissen, was Sie in Ihrem Kopf haben!
—Allerdings, da bin ich glücklich drüber. Aber Else, die kommt aus ihrem Leben nicht mehr raus... auf Wiedersehen! kichert höhnisch Ich bin nämlich schon tot... aber was hab ich nur gemacht all die Jahre? Du, Else, komm rein, und dann machen wir die Bude dicht, als wenn gar nichts gewesen wäre... aber wenn Du das Geld noch hast, dann gib es her! Ohne Spaß. Wenn ich noch lange warten soll, dann reiß ich hier alles kaputt...
—Aber... wenn man noch eine Mutter hat, dann soll man die küssen!
—Halt die Fresse, Mutter! Wenn jetzt ne Bahn kommt, dann schubs ich dich drunter, so hasse ich dich!
—Was? Was denkst du denn eigentlich, wer ich bin? Komm sofort her und sag: Mutter, es tut mir leid, nun ist alles wieder gut. Machst du das, aber dalli!
Nachtwache: kommt herein und ruft sehr streng Das geht aber nicht, Frau Marewsky, jetzt halten wir gefälligst mal etwas Ruhe hier, verstanden?!
—Ja, ja, Entschuldigung... gute Nacht...
Die Tür fällt ins Schloß
—leise Siehste, da hastes, jetzt ham wir sie geweckt, wenn Mutter nochmal kommt, gibts Schläge!
—Du! Du sollst das Wort Mutter und Schlagen nicht im Munde führen...
—Sei leise, sie hört uns doch!
—Du bist vollkommen verblödet, Else! Die ist doch schon längst verfault, unsere Mutter... so, nun weißtes!
—Ich? Das sind ja schöne Sachen, die ihr von mir denkt, Töchter wollt ihr sein, ihr Bestien!
—Mutter, bittebitte, ich geb dir mein ganzes Geldvermögen, wenn wir hier je wieder rauskommen... Ich wollte Else ja retten, aber da kam eine Frau am Abend von der Polizei... und dann, wo sind meine 160?
—Was will sie mit ihrer Polizei ewig, es ist zum Kotzen, Mutter, dauernd löchert sie mich!
—Gib die 160 Else, das ist mein Geld!
—Du fängst ja schon wieder an, die Leute gucken schon alle! Du bist ja verrückt!
—Ich bin ganz normal! Ich will mein Geld, und dann will ich weg, weit weg!
—Nach Amerika?
—Nee, nee, bloß ein bißchen an die Luft.
—Ich könnte ja mitkommen nach Amerika!
—Wohin?
—Ich könnte dich erwürgen!
—Siehste, das ist auch wieder so ein Wort, das Erwürgen! Ich, ich könnte dich totschlagen, solche Gedanken habe ich!
—Mach keinen Unsinn! Komm runter da vom Fensterbrett! Warum machst du sowas, ich werde noch verrückt!
—Erst meine 160!
—Die hab ich in deine Tüte gesteckt.
—In welche Tüte?
—In so eine große, da, da is sie ja!
—Danke. So, nun hab ich dir verziehen. Jetzt geh und koch Kaffee!
—Das kann ich nicht.
—Geh!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen