: Gorbatschow droht russischen Kumpels
Zwischen 16 und 35 Millionen Arbeiter streikten landesweit/ Jelzin versucht Arbeiter zu beruhigen ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Etwa 16 Millionen Menschen haben sich am Freitag in der Russischen Föderation an Warnstreiks in verschiedenen Industriebranchen in der Sowjetunion beteiligt, schrieb die Gewerkschaftszeitung 'Trud‘. Aus Kreisen des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes verlautete unterdessen, über 34 Millionen Arbeiter seien dem Aufruf gefolgt. Mit den Aktionen sollte gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen protestiert werden. Unterdessen drohte der sowjetische Präsident mit einem Ausnahmezustand in wichtigen Industriesektoren.
Neben einstündigen Warnstreiks wurden in vielen Städten der UdSSR auch Diskussionsveranstaltungen sowie Demonstrationen veranstaltet, die unter dem Motto „So kann man nicht leben“ standen. Die höchste Unterstützung fand der Aufruf für den einstündigen Warnstreik im Fernen Osten. In Moskau dagegen hatte sich die lokale Unterabteilung der Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Rußlands (FNPR) von ihrer Führungsspitze distanziert, die für den Warnstreik eingetreten war, und hatte statt dessen zu Protestversammlungen aufgerufen. Die meisten Teilnehmer an den einschlägigen Veranstaltungen folgten dem Aufruf der Bewegung Demokratisches Rußland, die den Rücktritt der UdSSR-Regierung an die Spitze ihres Forderungskataloges stellte. Die FNPR, eine relativ junge Gewerkschaft, forderte Preisreduzierungen, den Achtstundentag und die Vierzigstundenwoche sowie einen relativ bescheidenen „Mindestlohn“ von etwas über 190 Rubeln. Beide Organisationen ließen den Arbeitskollektiven die Wahl, ob sie streiken oder andere Protestformen wählen wollten.
Gewaltige Ausmaße nahmen die Meetings in den sibirischen Städten Wladiwostok, Usurijsk, Partisansk und Arsenjew an, wo sich insgesamt um die sechshunderttausend Menschen beteiligten. In Petropawlowsk (Kamtschatka) bewegte sich fast die gesamte erwachsene Bevölkerung hin zu einer Protestversammlung im Stadtzentrum. In Irkutsk waren es etwa achthunderttausend Einwohner, die demonstrierten, ebenso viele waren es Swerdlowsk.
In Belorußland wurden alle Streiks am Freitag vorerst abgeblasen. Eine Sprecherin des Streikkomitees in Minsk bestätigte am Sonntag, daß entsprechend dem Beschluß der Streikenden seit Samstag wieder gearbeitet werde. Allerdings soll der Streik am 21. Mai wieder aufgenommen werden, wenn bis dahin Gespräche mit der Republikregierung keine Ergebnisse gebracht haben.
Der Sprecher des ukrainischen Streikkomitees, Iwan Olejnik, erklärte, am Sonntag würden Vertreter der Streikenden aus Kiew und Moskau zurückkehren und über ihre Gespräche mit den Führungen der Republik und der Union berichten. Nach seinen Angaben hielten die Arbeitsniederlegungen in der Ukraine am Wochenende unvermindert an. Im Donezker Becken und in der Westukraine würden zusammen 61 Gruben bestreikt. Einzelne Stahlwerke und Textilbetriebe hätten sich mit den Bergleuten solidarisiert und ebenfalls die Arbeit niedergelegt.
Im arktischen Kohlerevier von Workuta haben die Bergarbeiter dagegen ihren Streik ausgesetzt und am Samstag in zehn von 13 Gruben die Arbeit wieder aufgenommen. Die verbleibenden drei Bergwerke wollen den Streik vorläufig fortsetzen. Zu Wiederaufnahme der Arbeit kam es, nachdem die Bergwerke rechtlich der Russischen Föderation zugeordnet worden waren. 20.000 Tonnen Kohle sollen nun täglich an das Stahlwerk Tscherepowiezk geliefert werden, deren Hochöfen sonst Schaden leiden.
Undurchsichtig bleibt die Rolle des russichen Präsidenten Boris Jelzin, der heute in das Kusnezker Kohlerevier nach Westsibirien reisen wird, um dort für ein Ende der Streiks zu werben. Der Regierungschef Rußlands, Iwan Silajew, hatte am Wochenende zugesichert, bis Montag einen Übernahmeplan wie in Workuta auszuarbeiten, der dann noch mit der sowjetischen Regierung abgestimmt werden müßte. Bisher unterstanden die Gruben dem sowjetischen Ministerium für Kohleindustrie.
Die streikenden Arbeiter erwarteten von Jelzin, daß er „allen erklärt“, was er mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow und den Präsidenten der acht in der Union verbleibenden Republiken vereinbart habe. Mißtrauisch hat die Arbeiter gemacht, daß der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow am Freitag vor dem Parlament die Verhängung des Ausnahmezustands nach dem 1. Mai in mehreren Wirtschaftssektoren angekündigt hatte. Dabei hatte sich Gorbatschow auch auf die Absprache mit den Republikpräsidenten berufen. Insbesondere das Transport- und Bankwesen sowie der Finanz- und Energiesektor sollen von den besonderen Maßnahmen betroffen sein. Die Verhängung des Ausnahmezustandes sei „nichts Erstaunliches“, hatte Gorbatschow am Freitag in aller Unschuld erklärt, denn noch in keiner Gesellschaft habe eine Krise nur durch wirtschaftliche Maßnahmen überwunden werden können. Das ZK der KPdSU hatte sich für Sondervollmachten für den Präsidenten ausgesprochen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen