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KOMMENTAREDer erste Mai bleibt tot

■ Die Gewerkschaften haben in Ostdeutschland soziale Kompetenz und zugleich politische Unfähigkeit bewiesen

Vor wenigen Wochen noch wurde in den Gewerkschaften darüber beraten und spekuliert, ob man am diesjährigen ersten Mai nach Bonn zur Großkundgebung gegen die Regierung rufen solle. Der wirtschaftliche Zusammenbruch in den neuen Ländern, die millionenfache Angst vor Verelendung und Entwurzelung der Menschen in Ostdeutschland und, für die West- Mitglieder, die Empörung über den Steuerbetrug der Bundesregierung bildeten, so schien es, den idealen Resonanzboden für eine machtvolle, hunderttausendfache Anklage gegen die Bonner Regierungspolitik. Seit der schmählich mißglückten zentralen Protestkundgebung der IG Metall am 17. April in Berlin ist davon keine Rede mehr.

Die Kampagnenpolitik der Gewerkschaften ist spätestens mit dem 17. April gescheitert, und das ist gut so. Denn sie hat sich mehr und mehr von dem zunächst durchaus glaubwürdigen Versuch entfernt, in die Fußstapfen der ostdeutschen Bürgerbewegungen zu treten. Die wiederbelebten Leipziger Montagsdemonstrationen waren zu Beginn sehr wohl ein authentischer Ausdruck der Verzweiflung, Enttäuschung und Wut über den Verlauf des deutschen Einigungsprozesses. Die krasse, die unverschämte und zynische Diskrepanz zwischen Wahlversprechen und nachfolgender Wirklichkeit hat die Menschen wieder auf die Straße getrieben. Die Gewerkschaften haben nichts weiter getan, als diesen Protesten ihren organisatorischen und politischen Rückhalt zu geben.

Doch Arbeitslosigkeit kann man nicht in gleicher Weise wegdemonstrieren wie eine wankende Diktatur. Durch noch so viele Demonstrationen werden die Betriebe in den neuen Ländern nicht rentabler, werden die Umweltschäden nicht weniger katastrophal und wird die physische und psychische Verelendung eines großen Teils der ostdeutschen Bevölkerung nicht aufzuhalten sein. Der Erfolg dieser Demonstrationen bemißt sich in politischen Akzentverschiebungen bei der Gestaltung des wirtschaftlichen Umwälzungsprozesses. Und hier haben der Problemdruck in Ostdeutschland und die von den Gewerkschaften organisierten Proteste der Bevölkerung in der Tat viel erreicht: Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, Arbeitsmarktprogramme und Überbrückungshilfen sind akzeptiert. Die Kurzarbeiterregelung wurde über den 30. Juni hinaus verlängert. Die Eigentumsfrage ist de facto in Richtung Entschädigung statt Rückgabe geregelt. Die Treuhand mußte eine Akzentverschiebung von der ausschließlichen Privatisierung zur Sanierung vornehmen und bildet demnächst eine von der IG Metall schon seit längerer Zeit geforderte Industrieholding, in der alle sanierungsfähigen, aber noch nicht privatisierten Betriebe mit dem Ziel einer eigenständigen Überlebenssicherung zusammengefaßt werden. Alles in allem mußte die Bonner Politik gegen den hinhaltenden Widerstand der Marktideologen im eigenen Lager den Strukturwandel in den neuen Ländern als Aufgabe einer sozial verpflichteten staatlichen Politik anerkennen.

All dies ist ein großer Erfolg der Gewerkschaften, der viele hundertausend Menschen vor Verzweiflung und Perspektivlosigkeit bewahren wird — und viele nicht. Aber gerade weil die Gewerkschaften in den neuen Ländern eine hohe soziale Kompetenz, einen großen Vertrauensvorschuß haben, tragen sie bei ihren politischen Aktionen eine umso höhere Verantwortung.

Der Versuch, dem Protest der Bevölkerung in Leipzig und anderswo eine gewerkschaftliche Kampagnenstrategie überzustülpen, war nur möglich durch einen kaum verhüllten Rückgriff auf die alten Mobilisierungs-Instrumentarien der SED: in den Betrieben wurde getrommelt, mit kaum verhülltem moralischem Druck zur Teilnahme aufgefordert, die betrieblichen Funktionäre meldeten Teilnehmerkontingente an die örtlichen Verwaltungsstellen, entsprechend wurden Züge und Busse geordert — und erst als diese sich gähnend leer Richtung Berlin in Bewegung setzten, dämmerte den rund um die Uhr im Einsatz befindlichen Gewerkschaftsaktivisten, daß mit der Herrschaft der SED auch die Zeiten des verordneten Protests zu Ende gegangen sind.

So steht nun zu erwarten, daß der diesjährige erste Mai so unauffällig vor sich hindämmern wird wie all die letzten Jahre in Westdeutschland. Die vergangenen Monate haben den Gewerkschaften weder Sieg noch Niederlage gebracht, sondern beides zugleich. Sie haben einerseits ihre hohe soziale Kompetenz unter Beweis gestellt. Anderseits haben sie ihre eklatante Unfähigkeit bewiesen, den sozialen Konflikt in Ostdeutschland politisch glaubwürdig zu artikulieren. Der Versuch der Gewerkschaften, an die Bürgerbewegungen anzuknüpfen, ist auch dann gescheitert, wenn diese nun als allerletzte vom Montagsritual in Leipzig abgelassen haben. Martin Kempe

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