Der Pate von Turin

■ „Die Reportage“, Dienstag, 30.4., um 19.30 Uhr, ZDF

Gianni Agnelli ist vermutlich der mächtigste Mann Italiens. Bei ihm laufen die Fäden der italienischen Wirtschaft zusammen, kaum eine wichtige Entscheidung wird ohne das Plazet des Fiat-Bosses getroffen, und ganz nebenbei beherrscht der 70jährige nicht nur die Medienwelt des Landes, sondern auch den Fußball. Gebiete, auf denen ihm ernsthafte Konkurrenz nur durch Silvio Berlusconi vom AC Mailand erwächst.

Seit fast 70 Jahren gehört Italiens beliebtester Fußballclub Juventus Turin praktisch der Familie Agnelli, ein Umstand, der dem „Advokaten“, wie Gianni Agnelli gern genannt wird, vor allem in den unruhigen siebziger Jahren mit ihren Roten Brigaden, wilden Streiks und Fabrikbesetzungen unschätzbare Dienste erwiesen hat. Mochte der Arbeitskampf noch so hart sein, wenn Juventus Tore schoß, war die „Fiat-Familie“, so bezeichnet Agnelli sein Imperium mit Vorliebe, wieder in Glückseligkeit vereint.

Kürzlich gewährte Italiens ökonomischer Pate dem ZDF Audienz. Reporter Jochen Bouhs durfte neben Agnelli auf der Tribüne sitzen, im Privatflugzeug mit nach Rom jetten, bekam ein längeres Interview und der Boß höchstselbst holte für ihn in der Halbzeit einen verschwitzten Thomas Häßler aus der Kabine. Von dieser generösen Behandlung waren die Fernsehleute so begeistert, daß ihre Reportage schwer zur Hofberichterstattung geriet. Dubiose Agnelli-Intimi wie Kissinger, Giscard d'Estaing, Helmut Schmidt, Andreotti durften minutenlang lobhudeln, Fußballverwalter wie Nunez (Barcelona), Tapie (Marseille), Hoeneß (München) und Spieler wie Haller oder Boniperti ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen. Berlusconi wurde seltsamerweise ebenso wenig befragt wie der von Agnelli verspottete Fertiggerichtefabrikant und Inter-Mailand-Chef Pellegrini (Agnelli: „Habt Ihr gehört, unser Koch hat Inter gekauft?“)

Auch die Meinung des einen oder anderen aufmüpfigen Fiat-Arbeiters wäre möglicherweise nicht uninteressant gewesen, fehlte aber ebenso wie eine Darstellung der unheilvollen Rolle, die Agnelli in den letzten Jahren bei der rapiden Christ- bzw. Ent-Demokratisierung der italienischen Gesellschaft spielte. Dafür durfte der Juve-Patriarch nach Belieben den braven, biederen, wohltätigen Fußballfan spielen, bei dem nur einmal auch auf sportlichem Sektor der knallharte Autoproduzent durchbrach: Japanische Spieler möchte er auf keinen Fall in seiner Mannschaft haben. Matti Lieske