: Die Kohle soll den Russen gehören
Boris Jelzin zog vor den sibirischen Kumpel alle Register/ In Workuta wird weitergestreikt ■ Aus Moskau Klaus-H. Donath
Boris Jelzin, ärgster Widersacher Gorbatschows und gewieftester Populist der Russischen Föderation (RSFSR), ist selten um dramaturgische Einlagen verlegen, wenn es darum geht, in heiklen Lagen die ungeteilte Gunst des Volkes an sich zu reißen. Im Nowokuznezker Luna- Park lieh er sich vor Tausenden Schaulustigen von einem streikenden Kumpel einen Stift, um seine Unterschrift unter ein Dokument zu setzen, das das Schicksal der russischen Kohleindustrie endgültig auf einen lichteren Pfad bringen soll. Das Abkommen, das die RSFSR am 5. Mai mit Vertretern der Unionsregierung unterzeichnen will, sieht vor, den Kohlebergbau endgültig in die Jurisdiktion der Russischen Republik zu überführen. Für Jelzin bedeutete das in Novokuznezk ein Ende der Gängelung durch „bürokratische Strukturen“. Er feierte die Streikbewegung: „Die jetzige Arbeiterbewegung ist möglicherweise die Form der Volksmacht, die im Land nach mehr als 70 Jahren Totalitarismus entstehen mußte.“
Nach den neuen Absprachen sollen Gruben und Kumpel 80 Prozent ihrer Valutaeinnahmen selbst einstreichen dürfen — statt der bisherigen 6 Prozent. Zuvor hatte sich Jelzin gegen Vorwürfe der Bergarbeiter verteidigen müssen, die seinen überraschend kompromißlerischen Kurs gegenüber Gorbatschow und dem Zentrum nicht nachvollziehen konnten. In der vergangenen Woche hatte er mit den Präsidenten acht weiterer Republiken und Gorbatschow ein Antikrisenprogramm verabschiedet, in dem von außerordentlichen Maßnahmen gegen streikende Betriebe die Rede war. Bei den anstehenden Wahlen zur russischen Präsidentschaft könnte hier der ehemalige Innenminister der UdSSR, Wadim Bakatin, als Gegenkandidat Jelzins eine wichtige Rolle spielen.
Das Mißtrauen der Bergarbeiter sitzt tief, und es sieht so aus, als würden die meisten Gruben erst dann die Arbeit wiederaufnehmen, wenn das Abkommen mit dem Zentrum tatsächlich unter Dach und Fach ist. In Workuta, nördlich des Polarkreises, haben die Arbeiter beschlossen, den am 29. April unterbrochenen Streik weiterzuführen. Die Gruben in Workuta waren schon im April in die Jurisdiktion der RSFSR überführt worden. Indes erklärte der Vorsitzende des Streikkomitees, Viktor Kolesnikow, die entscheidenden Feinheiten der Übergabe seien bisher nicht gelöst worden.
Der Streikausschuß, der am 27. April die Wiederaufnahme beschlossen hatte, wurde aufgelöst, da er „seiner Aufgabe nicht gerecht wurde“. Sollten die offenen Fragen geklärt werden, scheinen die Kumpel landesweit allmählich bereit zu sein, von ihrer Forderung nach dem Rücktritt Gorbatschows und seiner Regierung Abstand zu nehmen.
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