: GB: Unterhaus legt NS-Verbrechergesetz vor
London (taz) — Das britische Unterhaus hat am Mittwoch gegen den Willen des Oberhauses ein Gesetz verabschiedet, das es ermöglicht, Nazi-Kriegsverbrecher in Großbritannien vor Gericht zu stellen. Die Lords hatten am frühen Morgen das entsprechende Gesetz mit einer Mehrheit von 22 Stimmen wie schon im vergangenen Jahr abgelehnt. Daraufhin wandte die Regierung am Abend mit den Stimmen der Opposition zum ersten Mal seit 42 Jahren das Parlamentsgesetz aus dem Jahr 1911 an, das es ermöglicht, Entscheidungen des Oberhauses zu verwerfen. Es ist zu erwarten, daß Königin Elisabeth in der nächsten Woche ihre Zustimmung dazu erteilen wird, damit es in Kraft treten kann. Bisher war es nicht möglich, Kriegsverbrecher in Großbritannien vor Gericht zu stellen, wenn sie zur Tatzeit keine britischen Staatsbürger waren. Bis vor fünf Jahren hatte sich die britische Regierung sogar strikt geweigert, die Tatsache überhaupt in Betracht zu ziehen, daß in Großbritannien Nazi-Kriegsverbrecher leben, obwohl seit Kriegsende vor allem aus der Sowjetunion zahlreiche Beweise dafür vorgelegt worden sind. Das wurde jedoch stets als Propaganda abgetan. Erst als das Simon-Wiesenthal-Center Ende 1987 in Los Angeles überwältigendes Beweismaterial präsentierte, setzte das britische Innenministerium schließlich eine unabhängige Untersuchungskommission ein. Die Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Generalstaatsanwalts Sir Thomas Hetherington kam zu dem Ergebnis, daß genügend Beweise für Mordanklagen gegen vier Kriegsverbrecher vorliegen. Einer ist verstorben, ein weiterer hat ein Attest vorgelegt, das ihm Prozeßunfähigkeit bescheinigt. In 75 Fällen empfahl die Kommission nähere Untersuchungen. Bei den mutmaßlichen Kriegsverbrechern handelt es sich fast ausschließlich um Balten, die den mobilen Einsatzgruppen der Nazis angehörten und nach dem Krieg mit dem Flüchtlingsstrom unerkannt nach Großbritannien kamen. Die Entscheidung hat eine heftige Kontroverse unter britischen Politikern ausgelöst. Die meisten Lords wandten sich gegen eine rückwirkende Gesetzgebung, die zudem Ereignisse betreffe, die schon 50 Jahre zurückliegen. Darüber hinaus solle das Parlamentsgesetz zur Durchsetzung einer Unterhaus-Entscheidung nicht bei Gewissensfragen angewandt werden, hieß es in einer Erklärung der Lords. Der Tory-Hinterbänkler John Stokes befürchtet, daß die ohnehin umstrittene Rolle des Oberhauses dadurch „weiter unterminiert“ werde. Dennis Skinner vom linken Labour-Flügel sagte dagegen: „Wozu wählen wir denn überhaupt 650 Unterhausabgeordnete, wenn 1.100 Lords — die von niemandem gewählt worden sind, aber auf Lebenszeit im Oberhaus sitzen — ihnen vorschreiben können, was sie zu tun haben?“ Ralf Sotschek
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