piwik no script img

Anleitung zum zeitgenössischen Sex

■ Sowjetische Medien entdecken die Pornographie/ Billigblätter beschreiben Zungenkuß und Klitoris

Der alltäglichen Kolchosbäurin auf der Titelseite der 'Prawda‘ gleiten die Fäden aus der Hand. Zwar wacht sie in sowjetischen Kiosken noch immer wie ein strenger Schutzengel über die Keuschheit der Zeitungsleser. In U-Bahn-Schächten und Fußgängertunneln hat sich das letzte Tabu der Sowjetgesellschaft jedoch längst seinen Platz erobert. Auf kleinen Tischen, mitten im Gewühl, wo einst die demokratische Untergrundpresse gegen das Parteigebrüll anflüsterte, liegen heute zwischen Postern von Samantha Fox und kleinen Porno-Bildchen die 'Technik des zeitgenössischen Sex‘ und 'Sex-Press‘.

So wenig erregend wie ihr Titel ist meist auch der Inhalt der Billigdrucke. Er läßt sich schnell in zwei Kategorien einteilen: zum einen technische Anleitungen zum Geschlechtsverkehr, gespickt mit barbusigen Frauen, zum anderen Nachdrucke westlicher Sexblättchen von 'Neue Revue‘ bis 'Playboy‘. Fast absurd mutet die Beschreibung des Zungenkusses in dem 15 Seiten starken pseudo-pornographischen Ratgeber 'Weibliche Sexualität‘ an. „Bei Mann und Frau ist der Mund leicht geöffnet, ihre Zungen kreisen umeinander. Manchmal nimmt der Mann die Zunge der Frau zwischen seine Lippen und hält sie kurze Zeit fest. Es besteht die Möglichkeit, mit der Spitze der Zunge am Gaumen entlangzufahren.“

Wenn solch elementare Techniken der Erklärung bedürfen, so verwundert es nicht, daß die Entdeckung der weiblichen Klitoris ganze Seiten füllt. Schlußfolgerung der 'Technik des zeitgenössischen Sex‘- Autoren: „Da sich die Klitoris an einer unvorteilhaften Körperstelle befindet, hätte sie eigentlich ihre Empfindsamkeit über Millionen von Jahren nicht erhalten dürfen. Ähnlich einem Schwanz hätte sie verschwinden müssen.“ Dennoch empfiehlt der Autor, diesem weiblichen Organ Aufmerksamkeit zu widmen.

Zweifellos haben die SowjetbürgerInnen einiges nachzuholen. Dabei machen sich die Pornoblättchen allerdings immer noch zum Anwalt der ehelichen Moral. Der 'Erotik- Digest‘ veröffentlicht auf der letzten Seite je ein Dutzend Verhaltensmaßregeln für die höfliche Ehefrau und den höflichen Ehemann (Sie sollte ihren Gatten niemals vor den Kindern oder Außenstehenden und überhaupt nur selten kritisieren, er soll „Danke“ fürs Mittagessen sagen).

Verführung und Liebesspiel haben in der russischen Kultur immer hinter der sogenannten „geistigen Einheit mit dem Weib“ den zweiten Platz belegt. Die Verachtung fürs Fleischliche fand ihre Fortsetzung in der kommunistischen Ideologie. Intimität und freie Sexualität galten seit Stalin als Verstoß gegen die Volksinteressen. „Viele wissen nichts, sogar nicht das mindeste..“, stöhnt der 32jährige Wladimir Linderman, Redakteur der erotischen Satirezeitung 'Jeschtscho‘ ('Noch‘). 'Jeschtscho‘ und die ursprünglich der Aids-Aufklärung gewidmete Zeitung 'SPID- Info‘ erscheinen als einzige Lichtblicke auf dem (Print-)Medienmarkt fürs Körperliche. „Dieser wird sich mit der gesamten Presselandschaft entwickeln“, hofft Linderman.

„Zur Zeit geht es hauptsächlich darum, mit dem Tabu-Thema Sex Geld zu machen.“ Als wichtigen Schritt in Richtung auf mehr Qualität betrachtet er die offizielle Anerkennung der Blätter. Derweil machen sich die Abgeordneten des sowjetischen Parlaments Gedanken, wie der Pornowelle im Land Einhalt geboten werden kann. Wieviel nacktes Fleisch respektive Offenheit kann der „sowok“ (modern: Sowjetmensch) vertragen, lautet die Gretchenfrage? In bester parlamentarischer Tradition beauftragte der Oberste Sowjet einen Ausschuß unter Beteiligung höchster Kulturträger des Landes mit ihrer Beantwortung.

Dessen Vorsitzender, der sowjetische Kulturminister Gubenko, wies vor den Parlamentariern darauf hin, daß bei der Vorbereitung des neuen Gesetzentwurfes auf die historischen Erfahrungen der russisch-orthodoxen Kirche im Kampf mit dem Moralisch-Verwerflichen zurückgegriffen werden soll; ebenso auf Gesetze Peters des Großen und des letzten Zars, Nikolaus II. Die Zustimmung im Kreml-Saal war einmütig: Pornographie in der Sowjetunion? Lenin bewahre! Mechthild Henneke

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen