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Sie finden einander „ganz nett“

Zwei Frauen vertreten den thüringischen Landkreis Suhl im Bundestag — Claudia Nolte (CDU) und Iris Gleike (SPD). Während die eine sich als Lebensschützerin profiliert, setzt die andere auf Abtreibungsrecht.  ■ Von Tina Stadlmayer

Der Wahlkreis Suhl: Einige Glaswerke, ein paar Büchsenmacher und Christbaumkugel-Hersteller. Der einzige große Betrieb, das „Simson Motorenwerk“, ist pleite. Auf einem ehemaligen NVA-Übungsplatz wollen sich Westfirmen ansiedeln, nur: Es ist nicht klar, wem das Gelände gehört. Die BesitzerInnen der vielen ehemaligen FDGB-Ferienheime warten vergeblich auf TouristInnen aus dem Westen. Südthüringen im Frühjahr 1991.

Zwei Frauen vertreten den Wahlkreis Suhl im Deutschen Bundestag. Die Direktkandidatin von der CDU, Claudia Nolte, 26, Automatisierungstechnikerin, katholisch, verheiratet, keine Kinder. Und Iris Gleike, SPD, ebenfalls 26, Bauingenieurin, evangelisch, geschieden, ein dreijähriger Sohn. Die beiden „kennen sich kaum“ (Nolte), „haben noch nie richtig miteinander geredet“ (Gleike), finden einander aber „ganz nett“ (Nolte), und wollen „bei den Problemen in der Region an einem Strang ziehen“ (Gleike). Zwei politische Gegnerinnen mit einer gemeinsamen Geschichte: Beide haben vor der Wende beim Neuen Forum mitgearbeitet.

Claudia Nolte und Iris Gleike verbindet noch mehr. Sie sehen beide brav und bieder aus. Doch bei ihren politischen Auftritten im Osten wirken sie sicher und selbstbewußt. Im Westen ist das anders: Da lassen sich beide — das geben sie selbst zu — von der Arroganz der West-Chauvis verunsichern. „Es ist unglaublich, wie wir im Bundestag manchmal zu Hilfsschülern gestempelt werden“, schimpft Iris Gleike. Noch ein gemeinsames Problem: Beide Frauen haben in ihrer Partei Blitzkarriere gemacht und müssen jetzt mit dem Argwohn ihrer NeiderInnen zurechtkommen.

Montag abend, Bürgersprechstunde in Lichte bei Suhl: Der CDU Bürgermeister hat Claudia Nolte, sein SPD-Stellvertreter Iris Gleike eingeladen. Gleichermaßen hilflos reagieren die beiden Politikerinnen auf die lauten Zornausbrüche der Lichtener: „Ich kann nicht verstehen, daß aus Geldbeutelkommunisten jetzt Geschäftsführer werden, und die Bundesregierung das noch unterstützt“, beklagt sich einer. „Die Fachkräfte werden entlassen, und die alten Seilschaften bleiben“, ruft ein anderer. Claudia Nolte weiß nicht, wie sie helfen soll: „Als Abgeordnete kann ich weniger unternehmen, als die Arbeiter“, versucht sie den Leuten klarzumachen. „Die Belegschaften müssen sich eben neue Geschäftsführer wählen“, schlägt sie vor. Iris Gleike, die Kontrahentin von der SPD, gibt ihr recht. Nach der Veranstaltung hetzt Claudia Nolte gleich zum nächsten Termin. Wieder keine Zeit, die SPD-Kollegin kennenzulernen.

Claudia Nolte hat sich vorgenommen, während der sitzungsfreien Wochen in Bonn alle BürgermeisterInnen ihres Wahlkreises zu treffen und sich nach ihren Sorgen zu erkundigen. Dienstag morgen, acht Uhr: Pikobello angezogen — weiße Bluse, lila Hose — sitzt sie neben ihrem verstrubbelten Ehemann am Frühstückstisch. Claudia Nolte wohnt in einem ausgebauten Dachgeschoß am Rande von Ilmenau — in einer Wohngemeinschaft. Neben der CDU-Abgeordneten und ihrem Mann hausen dort noch zwei Studenten. Einer latscht gerade im Nachthemd ins Badezimmer. WG-Mittelpunkt ist die kleine Wohnküche mit dem obligatorischen runden Tisch, sechs unterschiedliche, alte Polterstühle stehen drumherum. Einziger Hinweis auf ihre konservative Gesinnung: Die geweihte Kerze auf dem Tisch und das Madonnenbild an der Wand. Claudia Nolte kippt schnell einen Becher kalte Milch hinunter und schnappt sich ihre elegante Aktentasche. Mit dem knallroten Ford Escord „Turbo“ ihres Bonner Mitarbeiters geht's los zum ersten Termin. Im Rathaus zu Hirschbach empfängt der CDU-Bürgermeister seine Bundestagsabgeordnete mit roten Rosen. Dann muß sie sich anhören, was sich ein Spezialist vom „Ingenieurbüro Suhl“ für die Zukunft der Region ausgedacht hat: Auf das ehemalige NVA-Gelände müßten „Know-How-orientierte Investoren“, nur so könne dort ein „Touristen-, Wirtschafts- und Wissenschaftszentrum“ entstehen. Ob die Frau Abgeordnete klären könne, wem das Terrain eigentlich gehöre? Der Gast aus Bonn verspricht, beim Liegenschaftsamt nachzufragen.

Die Bundestagsabgeordnete wirft ihrem Mitarbeiter einen gehetzten Blick zu. Der nächste Termin ist schon in einer halben Stunde. Aber die Hirschberger haben noch ein opulentes Mittagsmahl geplant. Mit gequälter Miene sitzt Claudia Nolte bald vor einer Riesenportion Rouladen mit Kartoffelknödeln. Allein das mitgereiste Team von Tele5 ist glücklich. Das gibt wunderbare Fernsehbilder: Die mampfende Abgeordnete im typischen thüringischen Gasthaus. Kaum ist der Teller leergegessen, drängt sie zum Aufbruch.

Ob sie wirklich glaubt, durch diesen Aktionismus etwas zu erreichen? „Ich will die Leute und die Probleme in meinem Wahlkreis kennenlernen“, verteidigt sich Claudia Nolte. Dumm sei das schon: „Ich komme überhaupt nicht mehr zum Lesen, aber das ist wohl das Schicksal von Bundestagsabgeordneten.“ Will sie diesen Job ihr Leben lang machen? „Ich weiß nicht“, sagt Claudia Nolte, „ich möchte mal Kinder haben, dann wird es schwierig.“ Sie habe aber auch keine Lust, als Hausfrau daheim zu bleiben. Ist das nicht ein Widerspruch zu ihren steten Bekundungen, „die Betreuung in der Familie“ sei für die Kinder so wichtig? „Das kann ja auch mein Mann machen“, lautet die — von einer CDU-Abgeordneten — überraschende Antwort.

Claudia Nolte will keine „rechte Politikerin“ sein. Sie sagt: „Ich habe etwas gegen dieses Etikett.“ Ihre Pressemitteilungen und öffentlichen Stellungnahmen weisen sie jedoch eindeutig aus: Zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hatte sie erklärt: „Wir haben Unrecht sanktioniert.“ Das Image als Rechtsaußen hat ihre Karriere beschleunigt: Die Fraktion wählte die 26jährige zur frauen- und jugendpolitischen Sprecherin. Insider munkeln, Bundeskanzler Kohl habe sich persönlich für die junge Unbekannte aus dem Osten starkgemacht. Claudia Nolte kämpft für ein strengeres Abtreibungsrecht und dagegen, daß die Krankenkassen Abtreibungen zahlen. Ihr engster Mitarbeiter ist Begründer der baden-württembergischen „Christdemokraten für das Leben“, einem Zusammenschluß fanatischer Abtreibungsgegner. „Abtreibung ist die Tötung eines noch nicht geborenen Menschen“, sagt die Katholikin und fleißige Kirchgängerin. Frauen, die abgetrieben hätten sollten aber nicht „ins Gefängnis geworfen werden“. Auf die Frage eines 'Spiegel‘-Redakteurs, was sie für die angemessene Strafe halte, hatte Claudia Nolte kürzlich geantwortet: „Die Frauen sollen ein Jahr lang im Krankenhaus arbeiten.“ Später, so die Katholikin sei ihr auch klargeworden „daß, das nicht geht“. Da stand die Meldung aber schon im 'Spiegel‘.

Ihre Kontrahentin von der SPD, Iris Gleike, hat das Zitat natürlich sofort aufgegriffen und als Beleg für die „stockrechte Gesinnung“ der CDU- Frau unter die Leute gebracht. Auch sie versteht sich als engagierte Christin und tritt dennoch für die Fristenlösung ein. Die Sozialdemokratin argumentiert: „Durch das Strafrecht können Abtreibungen ohnehin nicht verhindert werden.“ Schließlich habe es der Bundesrepublik, trotz des Paragraphen 218 genausoviele Abbrüche gegeben wie in der ehemaligen DDR.

Iris Gleike ist seit drei Jahren geschieden und lebt allein mit ihrem drei Jahre alten Sohn Philipp. In ihrer Dachwohnung stehen helle, mit Nippes bestückte Kiefernregale, vor den Fenstern hängen selbstgehäkelte Vorhänge. Die 26jährige trägt wie ihre CDU-Kollegin gerne adrette weiße Blusen, auch sie hat sich einen schnieken Aktenkoffer zugelegt. Sie wirkt weniger mädchenhaft als Claudia Nolte, ist ein gestandener, fröhlicher Typ. Die Sozialdemokratin tourt in diesen Wochen nicht durch den Wahlkreis, sie besitzt nicht einmal ein Auto. In der sitzungsfreien Zeit will sie ihr Regionalbüro ausstatten und die Arbeit in Gang bringen. Außerdem muß sie sich um ihren Sohn kümmern. Das ist alles gar nicht so einfach unter einen Hut zu bekommen: Die Arbeit in Bonn, die Arbeit im Wahlkreis und Philipp. Wenn Iris Gleike abends Termine hat oder ganz in Bonn ist, paßt die Oma auf den Kleinen auf. In Zukunft will die Politikerin ihren Sohn während der Sitzungswochen an den Rhein mitnehmen: Als einzige Abgeordnete hat sie — mit Sondererlaubnis der Parlamentspräsidentin — ihren Sprößling im Kindergarten für die Bundestagsangestellten untergebracht.

Über das Thema Kinderbetreuung sind sich Iris Gleike und Claudia Nolte genauso uneins wie über den Abtreibungsparagraphen. „Eine Unverschämtheit“ findet es die Sozialdemokratin, daß die CDU-Frau in einer Pressemitteilung verkündete, „das Wohl der Kinder“ sei in den ersten drei Lebensjahren „durch Gemeinschaftserziehung in hohem Maße gefährdet“, denn sie führe zu „tiefgehenden und zum Teil irreperablen emotionalen Schädigungen“. Claudia Nolte rede den Müttern ein schlechtes Gewissen ein, schimpft die SPD-Frau: „Ich hatte als Alleinerziehende gar keine andere Wahl, als meinen Sohn in die Krippe zu geben.“ Die „Gemeinschaftserziehung“ in den Betreuungsstätten ist für Iris Gleike keine Notlösung. Sie findet, es sei „gut für die Entwicklung der Kinder“, zusammen mit anderen aufzuwachsen. Ihr Sohn zum Beispiel habe in der Kinderkrippe „soziales Verhalten und Selbständigkeit“ gelernt. Bei vielen ehemaligen DDR-Krippen müsse man natürlich „einiges verbessern“, zum Beispiel die Gruppen verkleinern. „Vielleicht habe ich mit meiner Krippe Glück gehabt“, überlegt die Sozialdemokratin. Auf jeden Fall dürfe es nicht so weitergehen, „daß die Krippen nach und nach geschlossen werden“. Zur Zeit sei ein richter Teufelskreis im Gange: „Viele Mütter verlieren ihre Arbeit, sie können sich den Kindergarten oder die Krippe nicht mehr leisten.“ Die Folge: Die Einrichtungen machen dicht. Iris Gleike will sich erstmal in Schleusingen darum kümmern, „daß es nicht soweit kommt“.

Auch von der CDU-Politikerin Claudia Nolte erwarten die Frauen aus dem Wahlkreis Unterstützung. Zur „Bürgersprechstunde“ in Siegmundsburg sind drei Krippenerzieherinnen erschienen: „Können Sie uns helfen, daß die Einrichtung nicht geschlossen wird?“, fragen sie die Abgeordnete. Claudia Nolte ist in der Zwickmühle. Sie will sich's nicht mit den Frauen verderben, findet jedoch Kinderkrippen nicht besonders erhaltenswert. „Für Kinder ist die häusliche Entwicklung gut, deshalb haben wir in Bonn den dreijährigen Erziehungsurlaub eingeführt“, beginnt sie zu dozieren. Die Erzieherinnen sind enttäuscht: „Die will uns gar nicht helfen.“

Auch die nächste Station ist ein Reinfall. In Ernsthal kommt keine einzige Bürgerin, kein einziger Bürger zur angekündigten Sprechstunde mit der Bundestagsabgeordneten. „Da sehen Sie, daß unsere Leute keine Probleme haben“, witzelt der Bürgermeister. Nach einigem Herumdrucksen fragt er Claudia Nolte, ob sie ihm nicht helfen könne. Dabei hat er weniger das Wohl seiner Gemeinde, als sein eigenes im Auge. „Ich brauche einen Hubschrauber, um die Gäste für mein neues Hotel aus Bayern hierher zu fliegen.“ Die CDU-Frau ist baff, ob soviel Eigeninitiative.

Was sie eigentlich früher gemacht habe, wollen die mitgereisten JournalistInnen jetzt von Claudia Nolte wissen. Endlich hat sie Ruhe, um von sich zu erzählen. Zum Beispiel von der Zeit bei der Katholischen Studentenjugend: „da waren die meisten gegen den SED-Staat“, erzählt sie stolz. „Aber sie waren doch auch in der FDJ?“ Das sei eben während ihrer Schulzeit kaum anders gegangen, behauptet die CDU-Politikerin, „sonst wäre man aus dem Klassenverband ausgeschlossen worden“. Im September 1989 sei sie dann zum Neuen Forum gestoßen. „Die haben irgendwann angefangen, von einem ,neuen Sozialismus‘ zu reden, da hat es mir gereicht“, begründet Claudia Nolte ihren Ausstieg aus der Bürgerbewegung. Daß sie in der CDU gelandet sei, „war eher Zufall“. Sie habe da eben nette Leute kennengelernt. Ob sie sich heute mit dieser Partei richtig identifiziere? „Es geht“, sagt sie nach einigem Zögern. Sie finde vor allem das Grundsatzprogramm gut: „Die Schöpfung bewahren und das Leben schützen“, das entspreche ihrem „christlichen Menschenbild“.

Es folgte eine Blitzkarriere in der CDU. Schließlich gab es nicht so viele unbelastete KandidatInnen. Aus Bonn kam zudem der Ruf, man möge doch ein paar Frauen aufstellen. Claudia Nolte wurde Volkskammerabgeordnete, Direktkandidatin, Bundestagsabgeordnete. Sie habe sich niemals „hocharbeiten müssen“, gibt sie zu und hätte „darauf auch keine Lust gehabt“. Natürlich gebe es jetzt viele Neider, im Osten unter den Alten Hasen, im Westen vor allem unter den jüngeren CDU- Politikern. „Das ist nicht leicht wegzustecken“, sagt die 26jährige.

Iris Gleikes politische Geschichte beginnt wie die von Claudia Nolte: in einer christlichen Jugendgruppe. Die SPD-Frau behauptet allerdings nicht, dort „gegen den SED-Staat gewesen zu sein“. „Wir waren unglücklich über die Beschneidung der Freiheiten“, erzählt sie, „aber niemand hat das politische System grundsätzlich in Frage gestellt.“ Wie ihre CDU-Kontrahentin sagt allerdings auch Iris Gleike: „In der FDJ war ich, weil es kaum anders möglich war.“ Im Oktober 89 habe sie dann eine brennende Kerze, als Zeichen der Solidarität mit dem Neuen Forum, ans Fenster gestellt. „Ich hatte furchtbare Angst dabei“, erzählt die Sozialdemokratin. Anfang November: Da ist sie bei den ersten Demos mitgelaufen. „Mit Wachsmalkreide“ habe sie dann Plakate gemalt: Aufrufe zur Gründungsversammlung der SPD-Schleusingen. Auf die SPD sei sie gekommen, „weil die meinem Glauben wegen der sozialen Komponente am nächsten steht.“

Auch bei Iris Gleike ging dann alles blitzschnell. Dank Quote wurde sie auf Platz Vier der Landesliste für die Bundestagswahl katapultiert. „Ich wußte gar nicht, daß man mich vorgeschlagen hatte und war ganz von den Socken“, erzählt die Bauingenieurin. Vor allem viele Männer in der Partei neideten ihr den Sprung ins Parlament: „Das macht die Arbeit nicht gerade leichter.“ Heute ist sie stellvertretende wohnungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion und Mitglied des Fremdenverkehrsausschusses im Bundestag. Welches ihre Ziele sind? Sie möchte „vor allem den Menschen in meiner Region helfen“.

Auch ihre Kontrahentin Claudia Nolte will „etwas für die Menschen in der Region erreichen“. Beide Politikerinnen zweifeln aber manchmal, ob sie in Bonn dafür am richtigen Platz sitzen. Sie kritisieren unisono, der Regierungssitz am Rhein sei „viel zu weit weg“ von den neuen Bundesländern und all ihren Problemen. „Eine große Seifenblase“, sagt Iris Gleike. Die SPD-Abgeordnete ist, wie ihre CDU-Kollegin, „eher für Berlin“ als Regierungssitz. Beide genießen allerdings auch die Annehmlichkeiten des Regierungssitzes am Rhein: „Es gibt so viele Bäume hier, und die Wege sind kürzer als in Berlin“, schwärmt Claudia Nolte.

Noch etwas eint die zwei: Als Abgeordnete verdienen sie 14.000 Mark im Monat — das Vielfache eines ostdeutschen Durchschnittslohns. Deshalb haben auch alle beide ein schlechtes Gewissen.

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