: Primat der Politik
■ Zur Verschrottung der letzten Pershing-II-Rakete
Primat der Politik Zur Verschrottung der letzten Pershing-II-Rakete
In den Zeiten der Cholera, inmitten der Bilder aus Bangladesch und Kurdistan, zwischen den brennenden Ölquellen in Kuwait, Ölteppichen im Mittelmeer und der ostdeutschen Dauerkrise ging ein historischer Augenblick verloren, der nostalgische Züge trägt: die letzte der insgesamt 108 in der alten Bundesrepublik stationierten Pershing- II-Raketen verwandelte sich unter den Augen sowjetischer Abrüstungskontrolleure in eine weiße Rauchwolke. Die „doppelte Nullösung“ bei den landgestützten europäischen Mittelstreckenraketen, ein allseits gefeierter Abrüstungserfolg, interessiert heuer keinen Menschen mehr. Während des „heißen Herbstes“ 1983 dagegen ging es um Sein oder Nichtsein: „Noch nie in der Geschichte war unser Land in solcher Lebensgefahr wie heute“, formulierte damals ein Physiker — stellvertretend für viele Experten der Friedensbewegung — in der taz. „Kommt es dazu, daß die Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik stationiert werden, dann ist der Sommer 1983 wahrscheinlich unser letzter.“
Es sollten noch viele friedliche Sommer in Deutschland kommen. Erst der achte brachte wieder Gefahr. Saddam Husseins Überfall auf Kuwait erweckte die längst eingeschlafene Friedensbewegung zu neuem Leben, wieder schien die Bedrohung unmittelbar und apokalyptisch, und wieder plazierte man sich mit Sitzkissen und Schlafsack vor amerikanischen Einrichtungen, um gegen den „Wahnsinn“ zu protestieren. Als die „US-Aggression“ vorbei war und Saddams Völkermord an Schiiten und Kurden begann, verfiel der pazifistische Protest wieder in tiefes Schweigen. Die Kontinuität dieser Protestkultur ist unübersehbar. War sie vor zehn Jahren blind für die spätstalinistische Realität Osteuropas und den — von Moskau inzwischen eingestandenen — aggressiven Charakter der SS-20-Aufrüstung, so will sie sich auch heute nicht mit der grundlegenden politischen Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen des Friedens auseinandersetzen. Dem „Friedensbündnis“ mit der DKP damals entspricht heute die Ignoranz gegenüber totalitären und antidemokratischen Traditionen in der arabischen Welt. Selbst die arabische Menschenrechtsorganisation in Kairo verwies auf Anfrage der Publizistin Chérifa Magdi auf die „inneren Angelegenheiten“ des Irak beim Genozid an der eigenen Bevölkerung.
Die strukturell apokalyptische Argumentation der Friedensbewegung damals wie heute verabsolutiert die Waffen und entwaffnet damit die Politik, die zu einem bloßen Anhängsel der „Vernichtungsmaschine“ degradiert wird. Der Protest gegen die Raketenstationierung war so richtig wie die späte Erkenntnis, daß Waffen — via Politik — auch ihre eigene Abschaffung erzwingen können. Trotz aller Rückschläge gibt es nur einen Weg — den Primat der Politik in einer offenen Gesellschaft. Reinhard Mohr
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