: Vor einer neuen Eiszeit USA-Sowjetunion?
Gorbatschow sieht Zeichen einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen/ Das State Department setzt weiter auf den Staatschef, will sich aber andere Optionen offenhalten/ Welche außenpolitische Rolle sollen die Unionsrepubliken spielen? ■ Von Christian Semler
Die Kräfteverlagerung in der Sowjetunion zugunsten der Unionsrepubliken, vor allem der russischen Föderation, stellt die Politik der USA und der Westmächte vor eine schwierige Wahl. Sollen sie weiterhin auf den Fortbestand der Union und darauf setzen, daß Gorbatschow politisch überlebt? Und wenn nein, wie sollen die Unionsrepubliken bzw. die abgespaltenen Nationen ins außenpolitische Kalkül gezogen werden? Während der Krise zu Anfang des Jahres im Baltikum, als sowjetische Einheiten bei der Besetzung des Fernsehturms in Vilnius ein Blutbad anrichteten, reagierte das State Department zurückhaltend auf die Forderung der baltischen Staaten nach rascher Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Die „Anatomie dieser Zurückhaltung“ ergibt, daß die USA der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion angesichts der Irak-Intervention und der sowjetischen Zustimmung im Sicherheitsrat höchste Priorität beimaßen. Wir wissen nicht, ob zu diesem Zeitpunkt Geheimverhandlungen stattfanden, in deren Ergebnis sich die Sowjetunion verpflichtete, in den baltischen Staaten militärisch nicht zu intervenieren, die USA im Gegenzug dazu bereit waren, die Anerkennungsfrage zu vertagen. Tatsache ist, daß die Bush- Administration auch nach dem Sieg im Irak im Prinzip daran festhielt, Gorbatschow als „Alleinvertreter“ sowjetischer Politik zu akzeptieren. In seiner Rede vom 13. April in Montgomery (Alabama), die als programmatisch deklariert wurde, machte Bush allerdings folgende Einschränkung: „Das (die Linie des Dialogs und der Verhandlungen C.S.) ist eine Politik, für die wir unerschütterlich sowohl in unseren Gesprächen mit der sowjetischen Zentralregierung als auch allen Elementen eintreten werden, die im sowjetischen politischen Leben aktiv sind.“ Solche „Elemente“ waren natürlich die Vertreter der baltischen Staaten, die insgesamt fünfmal — betont unauffällig — bei Hofe vorgelassen wurden, aber auch Politiker des demokratischen Lagers innerhalb der russischen Föderation.
Gorbatschow vorsichtig zu unterstützen, mögliche andere Optionen aber nicht aus den Augen zu lassen, wurde in den letzten Tagen in einer Expertenstellungnahme aus der Umgebung Bushs nochmals zur Regierungsdoktrin erklärt: „Gorbatschow bleibt in der Regierungsverantwortung, er ist nach wie vor der Mann, der Verträge unterzeichnen kann, und wir hoffen, daß er seine Unterschrift unter die beiden großen Rüstungskontrollabkommen setzen wird, die jetzt auf dem Tisch sind.“ Und dann: „Er ist der wichtigste Teilnehmer im Spiel, aber nicht der einzige.“ Äußerungen dieser Art reflektieren die Sorge des State Department um einen stabilen Ansprechpartner in den Abrüstungsverhandlungen. Ohnehin wächst die Zahl der „Falken“, die mit Hinweis auf eine baldige Militärdiktatur in der Sowjetunion die ganze Vertragspolitik revidieren wollen und an neuen Bedrohungsszenarien basteln.
Für Gorbatschow, dessen Machterhalt mindestens zur Hälfte von seinem internationalen „standing“ abhängt, ist die Politik der Rückversicherungen gefährlich. Zu schaffen macht ihm auch die Skepsis, mit der die Kreditwürdigkeit der sowjetischen Zentrale neuerdings bedacht wird. So schlug das US-Handelsministerium vor, die von der SU geforderte Kreditgarantie von 1,5 Milliarden Dollar für Getreideankäufe von der Unionsregierung und der russischen Föderation gemeinsam gegenzeichnen zu lassen. Obwohl die Verteidigung der Menschenrechte in der SU mehr zur Propagandaklapper des Weißen Hauses denn zur Regierungspraxis gehört, muß Gorbatschow auch hier Schwierigkeiten fürchten. Senator Dole, immerhin Interessenvertreter der weizenproduzierenden Farmer, hat angeregt, daß die Kreditgarantie mit einer „Wohlverhaltensklausel“ versehen wird. Ohnehin sprechen die vernichtenden Gutachten-Urteile über den Stand der zentralgeleiteten sowjetischen Ökonomie dafür, daß Verhandlungen über Investitionen und Kredite künftig stärker mit der radikal marktorientierten Regierung der russischen Föderation als mit Instanzen geführt werden, die in naher Zukunft über nicht mehr als die Fläche ihres Bürotischs gebieten werden.
Es waren diese Motive, die Gorbatschow bestimmten, in seinem Interview mit Murdoch den Abgrund eines neuen Kalten Krieges heraufzubeschwören. Das war wohldurchdachte Dramatisierung und — bedenkt man die Reaktionen der westlichen Presse — ein voller Erfolg. Auch gegenüber Mitterand griff Gorbatschow zu einer Sprache voller pathetischer Selbstvergewisserung: „Wir sollten weiter von der Voraussetzung ausgehen, daß die Sowjetunion existiert, daß sie weiter existieren wird, daß sie ein mächtiges Land ist und bleiben wird.“ Der Staatsgast revanchierte sich mit Verständnis für die schwierige Lage der Perestroika, sprach von unvermeidlichen Rückschlägen und davon, daß „die Freiheit immer zahlreiche, übertriebene Ansprüche mit sich bringt“.
Diese vorsichtige Stützungsaktion des „Florentiners“ bringt eher die Verlegenheit der westlichen Staatsleute angesichts des zerfallenden Imperiums zum Ausdruck als eine durchdachte Politik. Sie hätte ins Kalkül zu nehmen, daß auch im Fall einer geglückten Erneuerung der Union die Republiken, ihren Interessen folgend, ihre je eigene Rolle in der Außenpolitik spielen werden.
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