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Die große Wanderung am Muttertag

■ Die schwule Szene zieht zum Ernst-Reuter-Platz

Vierspurig kreisen die Autos, grau türmen sich die Geschäftshäuser, der Springbrunnen plätschert wie eh und je. Auf den ersten Blick ist von der Umstrukturierung am Ernst- Reuter-Platz nichts zu spüren. Letzte Woche putzte aber die BSR die unterirdische Klappe von vorne bis hinten, und das berühmte Bücherwarenhaus schmückte ein Schaufenster ausschließlich mit schwuler Literatur. Doch erst wenn am Samstag der Seattle Gay Men Chorus in der HdK auftritt und die Siegessäule in der Alten TU-Mensa feiert, löst der Ernst-Reuter-Platz unübersehbar den Nollendorfplatz als Zentrum der Berliner Schwulenszene ab. Hardenberg- und Motzstraße tauschen in der Nacht zum Muttertag ihr Naturell.

Allein Senkrechtstarterin Melitta Sundström hat mit dem »Reuti«, wie man den Platz in der Szene bereits nennt, Probleme. Die ebenfalls für Samstag angekündigte Vorstellung ihrer ersten LP im nahen Homo- Buchladen »Eisenherz« fällt aus. Ein Lied habe ihr nicht gefallen, erklärte Melitta allürenhaft wie eine alternde Diva, die Platte müsse noch einmal neu abgemischt werden. Prompt zog das Renaissance-Theater nach und ersetzte ihr homophiles Stück »Die Katze auf dem heißen Blechdach« durch Falladas »Kleiner Mann was nun?«.

Um eine Antwort sind die schwulen Buchhändler jedoch nie verlegen. Sie verweisen auf ihre Freitagsveranstaltung: Erstmals in Berlin liest Wolfgang von Wangenheim sein unterhaltsames Essay über »Onanie im 18. Jahrhundert«. Wangenheim, der bekannte Fotograf von schwarzen Männerkörpern und Mitherausgeber der Hubert-Fichte-Edition, erzählt, wie sich das Onanieverbot des Arztes Tisso und des »Aufklärers« Rousseau auf die Literatur auswirkte — sei es auf Kleists heikle Liebespaare oder Hölderlins unerreichbare Frauenfiguren.

Daß sich die Schwulen am Ernst-Reuter- Platz stauen, ist dennoch erst mit dem Auftritt von »Philandros« am Samstag im Konzertsaal der HdK zu erwarten. Die Untergruppe des zweitgrößten US-Schwulenchors aus Seattle ist berühmt für ihre Kontertenöre. Ihr Repertoire umfaßt vor allem Jazz und amerikanische Folksongs, aber auch zeitgenössische Musik, etwa von Leonhard Bernstein. Auf der Bühne wirken sie etwas steif: Sie legen weniger Wert auf Choreographie als auf Präzision und Harmonie des Gesangs. Höhepunkt in der HdK wird ihr gemeinsamer Auftritt mit dem befreundeten Berliner Schwulenchor MännerMinne.

Etwa zur gleichen Zeit wird MännerMinnes Konkurrenzchor RosaCavaliere das Programm der Siegessäulen-Party »Männerfang und Mutterglück« in der benachbarten TU-Mensa eröffnen. Das kleine Berliner Schwulenmagazin stellt sich damit in die Tradition der legendären Eldoradio-Fête im Februar. Mit dem Fest will man die Zeitschrift weiter etablieren und den Grundstein für ihren Ausbau legen. Symbolcharakter kommt dabei dem Soloauftritt Terry Trucks zu. Terry stand bislang genauso im Schatten Georgette Dees wie die Siegessäule in dem ihres Mutterblatts »magnus«.

Gewagter als Trucks Auftritt ist die Darbietung von »Balkan Elektrik«. Seit 1988 sorgen die Bulgarin Violetta Najdenowicz und der »Marc Almond von Warschau« Slawek Starosta zwar bei Polens Schwulen für volle Säle, ihre eigentümliche Mischung aus verpoppter bulgarischer Folklore, ambient music und acid house ist für westliche Ohren jedoch ungewohnt. Bevor aber DJin Ahima Beerlage mit bekannteren Stücken die open end-Disco beginnt, traut sich Melitta Sundström doch noch für ein midnightspecial an den Ernst-Reuter-Platz heran. Zusammen mit den Trümmertunten Pepsi Boston, Melitta Poppe und Chou Chou der Briquette präsentiert sie Lieder rund um die Mutter. Klar, damit man nach dem Aufwachen am nächsten Nachmittag den Pflichtanruf zum Muttertag nicht vergißt.

Verzieht schon die schwule Lederfraktion bei den schrillen Tuntenauftritten das Gesicht, muß man erst nach der Geduld Ernst Reuters fragen. Würde sich der wackere Kämpfer gegen Kommunismus und Blockade nicht im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, was auf seinem Platz geschieht?

Vermutlich nicht. Selbst sein regierender CDU-Nachfolger Diepgen schrieb jüngst ein Grußwort zum schwulen Volleyballturnier am nächsten Wochenende und berief sich dabei auf Magnus Hirschfeld und die Toleranz. Während Albert Eckert beim Lesen erbleichte, andere nur noch zynisch lächeln konnten, spürte man bei einigen MinneMännern Neid: »Diese Anerkennung hätten wir uns für den Auftritt des Seattle Men Chorus auch gewünscht«, war aus den Reihen der Chormitglieder zu erfahren. »Bloß Diepgen hat geschrieben?«, fragten dagegen die Redakteure der Siegessäule und stellten klar: »Unter Mutter Teresa als Schirmfrau ist bei uns nichts drin.« Jörg Biene

Vortrag »Onanie im 18 Jahrhundert« am Freitag um 20 Uhr bei Prinz Eisenherz, Bleibtreustr. 52, 1/12

Seattle Men Chorus und Männerminne am Samstag um 20 Uhr im Konzertsaal der HdK, Hardenbergstraße, 1/12

Siegessäulen-Party am Samstag ab 21 Uhr in der Alten TU-Mensa, Hardenbergstraße 34, 1/12, (alle am U-Bhf. Ernst-Reuter-Platz)

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