piwik no script img

Der Leibring als Schwimmreifen

■ »Die dicke Melusine« vom Theater der Sterne in der Villa Kreuzberg

Du fette Sulzwurst, du gestopfter Mastdarm, du breitärschiger Mops«: gegen solche und ähnliche Beschimpfungen ist die dicke Melusine dank ihres Leibrings gefeit. Dank ihres »Psychopuffers« kommt nichts an sie ran; im Gegenteil, sie schlägt daraus noch Profit, setzt ihren Hüftspeck als punching ball für Emotionsüberschwemmte ein. Unter dem zugkräftigen Namen »Dickhäuter-Poker« bietet sie sich in einer Jahrmarktsbude als Haßabladestation an. Und aufgrund der regen Nachfrage kassiert sie eine bedeutende Summe, die ihr zur Finanzierung einer Antikriegskampagne nützt.

Die dicke Melusine, ein von der Regisseurin Ellen Esser in Verse gesetztes Stück mit durchgängigem Endreim, ist eine motivverschränkte klassische Komödie, die sich nahe an Was ihr wollt von Shakespeare ansiedeln will. Die männliche Zentralperson ist König Hamlet, nach dem bekannten Tod seiner Ophelia verwitwet und damit wieder dramenfähig, der hier von Cousine Melusine freiersfüßig heimgesucht wird. Hamlets endgültige Erlösung von Schuldkomplex und Langzeitdepression in dieser Inszenierung hebt ihn natürlich als Dauerleitfigur der Moderne auf: dicke Nudeln alias Melusinen bringen den dürren, kopflastigen Hamlet in gleich-gewichtigen Stand. In der Umhüftung seiner blonden Cousine gelangt Hamlet zu materialreichem Lebensbezug.

Um den Regierungssitz neben Hamlet zu erobern, muß Melusine allerdings einen langen Selbstverleugnungsweg gehen. Sie legt sich die Maske des Narren an und dem König zu Füßen. Seine Kriegspläne versucht sie heimlich zu hintertreiben, indem sie einen Kinderfriedenszug quer durchs Land organisiert und die Heroenpose der Hofdiener veralbert — Hamlet erkennt Melusinens Weitblick erst, als er bankrott ist und zu Steuererhöhungen greifen muß.

Die Essersche Figurenkreation der Melusine stellt eine durchaus begrüßenswerte Erweiterung des auf Dünnhüftigkeit beschränkten dramatischen Weiblichkeitsspektrums und damit einen neuen Heldentyp dar: eine sozusagen deterritorialisierte Nomadenexistenz, die minoritär gegen die patriarchalische Ordnung anfuttert und ihren Leibring zunehmend als Schwimmreifen durch die männliche Machtordnung begreift. Singend, tanzend und ihre Arme verdrehend geht sie siegreich dagegen an: neben ihren spindeldürren, chorig mitschwingenden gogo- boys treten ihre dynamischen Kreislbewegungen nur noch besser hervor.

Dennoch bleibt die Jahrmarktsposse ein wenig dünn. Trotz des lebhaften Einsatzes aller Schauspieler und ihrer sichtbaren Spielfreude legt das Theater der Sterne eine zwar fidele, aber mit Freßsucht und Golfkrieg gleichzeitig überfütterte, unentschiedene Produktion vor. Die Musik- und Tanzeinlagen geben der Aufführung Rhythmus und Schwung — der selbst auferlegte Tingeltangelcharakter indes zwingt alles in das Maß von Singbarkeit. Die dürftigen Mittel und das etwas unprofessionelle Spiel lassen die Aufführung durchsichtig werden, sie ist nicht ausreichend opak für den Schein. Das Publikum der Villa Kreuzberg indes war begeistert, eine Dreizehnjährige stöhnte immerfort: »Genial«. Michaela Ott

Die dicke Melusine , Musiktheater von 13-73 Jahren in der Villa Kreuzberg, Kreuzbergstraße 62. Für Schulklassen fortlaufend 11 Uhr in der Studio-Bühne Berlin im Wedding, Vorbestellungen: 8838399.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen