: Keine Militärparade zur Siegesfeier
■ Der 46. Jahrestag des Sieges über die Nazis büßt sein heroisches Element ein
Moskau (taz) — Noch gerade rechtzeitig zum 46. Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus erhielt Jakob Semjonowitsch ein Päckchen aus dem neuen Deutschland. Humanitäre Hilfe. Mit Thüringer Bratwurst, Rindfleisch und Salami. Ein spätes Dankeschön. Es ist ihm peinlich, doch er nimmt es trotzdem. Semjonowitsch ist 86 und erfreut sich bester Gesundheit. Bis vor kurzem noch las er täglich zwei Zeitungen und ließ keine Nachrichtensendung aus. Damit ist es jetzt vorbei. Nicht weil er es nicht mehr könnte. Nein — er hat den Rachen gestrichen voll von der Politik, die nicht mehr die seine ist. Als Rentner erhielt er gerade die Quittung der seit Jahren verfehlten Wirtschaftspolitik: leere Geschäfte und drastische Preissteigerungen, die die kleine Rentenerhöhung auch nicht annähernd auffängt. Er hat den Glauben an alles verloren. Mit den Jahren ging auch noch verloren, wofür dieser Tag immer stand oder stehen sollte: die Freundschaft zwischen den Sowjetvölkern, die „Ehre der Roten Armee“ und der Glaube an die Überlegenheit des Systems. Was soll man auch davon halten, wenn sich heute ein junger Essayist ungehindert in einer sowjetischen Zeitschrift in Blasphemie üben darf: Wäre es nicht besser gewesen, fragt er, wir wären besetzt worden?
Zum ersten Mal seit 1945 wurde dieser Tag in Moskau nicht mit einer Militärparade begangen. Die Waffenschau fiel aus, und auch die martialischen Transparente waren spärlich. Und noch ein Novum. In dem kleinen Zug der Veteranen, der sich vom Majakowskij-Platz über die Moskauer Flaniermeile Twerskaja zum Manege-Platz bewegte, marschierten auch alte Kämpfer der US- Armee mit. Vorneweg eine Blaskapelle, so bunt wie man es von den Amerikanern erwartet. Völkerfreundschaft, die den amerikanisch- sowjetischen Beziehungen schon wieder hinterherhinkt. Die Armeezeitung 'Krasnaja Swesda‘ (Roter Stern) ergriff denn auch die Gelegenheit und forderte in ihrer Feiertagsausgabe, den Tag des Sieges in „Tag der Warnung“ umzubenennen. Nur wovor? Vor einem neuen Krieg? Den gibt es schon in Armenien, wo sowjetische Truppen wieder ihr Unwesen treiben. An der Ballustrade des Hotel Moskau prangte die Losung: „Ewige Ehre dem Sieg des Sowjetvolkes...“, und es wirkte wie ein Anachronismus. Hartnäckig hält sich diese Formel vom einheitlichen Sowjetvolk, das keines mehr sein will. Klaus-Helge Donath
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