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Keiner schützt sie vor Gewalt

■ Wittenberge: Der junge Namibier Lucas Nghidinwa schwebt noch immer in Lebensgefahr

Lucas Nghidinwa liegt im Koma auf der Intensivstation. Eine Woche, nachdem der junge Namibier und sein Freund Jona Ipinge durch randalierende Deutsche bedrängt wurden und vom Balkon ihrer Wohnung im vierten Stock stürzten, schwebt Lucas noch immer in Lebensgefahr. Bei dem Sturz war er einem Treppengeländer aufgekommen und trug schwere innere Verletzungen davon, sein Gesicht ist zerstört. Jona wurde am Mittwoch im Krankenhaus Wittenberge an den mehrfach gebrochenen Beinen operiert. Er will keine Fremden sprechen, hat Angst.

Der Staatsanwalt ermittelt gegen fünf tatverdächtige Wittenberger. Über Ausgangspunkt und Verlauf des furchtbaren Gewaltverbrechens gibt es widersprüchliche Aussagen.

Der 17jährige David Eelu war gemeinsam mit zwei anderen jungen Afrikanern am Donnerstagabend letzter Woche zur Diskothek in das „Klubhaus der Eisenbahner“ (das „KdE“) in Wittenberge gegangen. Neben Schlafen, Fernsehen und gelegentlichen Ausflügen in Nachbarstädte ist das die einzige Zerstreuung für die vierzehn ausländischen Jugendlichen, die im Reichsbahnausbesserungswerk zu Betriebsschlossern ausgebildet werden. Nach Davids Darstellung wurden die drei Namibier erst von zwei Deutschen auf der Tanzfläche angerempelt, dann von einer ganzen Gruppe umringt und aus dem Saal gezerrt. Die Deutschen schlugen ihnen ins Gesicht. In panischer Angst stach David mit einem Taschenmesser um sich und lief weg. Drei junge deutsche Männer wurden am Hals, an der Wirbelsäule beziehungsweise am Arm verletzt. Einer von ihnen behauptet, zuvor hätte es „Ärger“ mit den Namibiern an der Theke gegeben, aber man habe das „sachlich geklärt“.

Die deutschen Azubis im Reichsbahnausbesserungswerk Wittenberge meiden das „KdW“. Das wäre ohnehin ein „heißes Pflaster“. Dort würden sich randalesüchtige Wittenberger Cliquen treffen. Gewarnt haben sie die Namibier nicht davor.

Randalierer brachen ein

Noch in der Nacht zogen zwanzig bis vierzig Deutsche erst zum Krankenhaus, wo ihre verletzten Kumpel versorgt wurden. Das Krankenhauspersonal informierte die Polizei. Gegen Mitternacht fuhren mehrere Autos bei dem Haus in der Allendestraße vor, daß von Namibiern und deutschen Familien gemeinsam bewohnt wird. Die Randalierer brachen die Haustür auf. In einer Wohnung traten sie Türen ein, zerschnitten die Betten und ließen Geld und Sachen mitgehen. David hielt sich mit vier Freunden im Zimmer in der vierten Etage auf. Er erinnert sich, wie die Randalierer mit Gaspistolen und Messern bewaffnet in das Zimmer stürmten. Die Afrikaner wurden auf den Balkon gedrängt. David und zwei Freunden gelang es mit Hilfe einer Wäscheleine auf den tiefer gelegenen Balkon zu fliehen. Jonas gibt an, vom Balkon gestoßen worden zu sein. Bei Lucas ist das ungewiß.

Bisher, so David, waren sie in der Stadt, in der außer ihnen kaum Ausländer leben, kaum belästigt worden. Aber Freunde unter den deutschen Jugendlichen hätten sie keine. Für ihren Betreuer Karl-Heinz Glücker war die Messerstecherei in der Diskothek nur der letzte Anstoß für die folgende Gewalttat. Er sieht kaum eine Chance, die Jungen zu schützen. Die Gewalt richte sich dabei nicht nur gegen Ausländer. Für die gesamte Stadt (30.000 Einwohner) stünden nur drei PolizistInnen als Streifendienst zur Verfügung. Irina Grabowski

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