: Die ganze Welt vor der Glotze
Ein paar Bemerkungen zum beliebten Genre Fernsehserie ■ Von Martin Compart
Spricht man über Fernsehserien, stößt man fast immer auf zwei extreme Positionen: Entweder werden sie kritiklos geliebt, oder sie werden als vermeintlich minderwertige Unterhaltungsprodukte einer manipulativen Industrie verachtet. Daß ihr Erfolg gigantisch ist und die Fernsehserie ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Populärkunst im allgemeinen und der Fernsehkultur im besonderen, wird dann meist begeistert oder mürrisch zugegeben. Als Ziel systematischer, wissenschaftlicher Beschäftigung spielt die Fernsehserie bei uns bisher keine Rolle. Höchstens mal, daß eine einzelne, besonders erfolgreiche Fernsehserie herausgegriffen wird, um ideologiekritisch durchleuchtet zu werden. Auf der anderen Seite dienen Fernsehserien und ihre Stars auf trivialster Ebene dem Inhalt der zahlreichen Fernsehzeitschriften, der Yellow Press und dem Boulevard Journalismus. Dort wird auf unterstem Niveau eine Serie auf human interest- stories ihrer Schauspieler reduziert.
Erst in den letzten Jahren, ausgehend von England und den USA, hat eine verstärkte, die unterschiedlichsten Faktoren mit einbeziehende Beschäftigung mit der Fernsehserie eingesetzt. Ausgangspunkt war, wie schon bei der Aufarbeitung anderer populärkultureller Genres und Medien (Rockmusik, Comics, Science Fiction, Kriminalliteratur), das sogenannte „Fandom“. In England und den USA hat sich im Umfeld bestimmter Serien, der sogenannten „Kultserien“, ein immer größerer Kreis von Fans versammelt, der sich über den Konsum hinaus mit besonders faszinierenden Serien beschäftigte. Hinzu kam Unterstützung von seiten der anerkannteren Filmfans, die sich für einzelne Serienfolgen interessierten, die von später im Kino erfolgreichen Regisseuren inszeniert wurden. Regisseure wie Steven Spielberg, Sam Peckinpah, John Badham oder Peter Yates hatten innerhalb von Serienproduktionen erstmals die Möglichkeit zu inszenieren. Tatsächlich konnte man in Einzelfällen, wie zum Beispiel einer Episode der Straßen von San Francisco von John Badham, entdecken, daß ein später renommierter Regisseur sogar innerhalb der Fließbandproduktionsverhältnisse seine spezielle Vision verwirklichen konnte. Es entstanden kleine Zeitschriften, „Fanzines“, die zuerst positivistisch und subjektiv alle erreichbaren Informationen zu einzelnen Serien zusammentrugen. Bei älteren Serien, die besonders in Hollywood wie am Fließband produziert werden, keine leichte Aufgabe. Das große Echo, auf das Fans und Fanzines stießen, ließ Spezialläden entstehen die Memorabila, Spezialliteratur und die unterschiedlichen Merchandisingprodukte zu Serien anbieten. Als bisher letzter Schritt öffneten sich große Verlage, um Bücher zu Serien herauszugeben, die die jeweiligen Produktionsgeschichten erzählen. Der amerikanische Verlag St. Martin's Press hat nach dem großen Erfolg von Büchern zu bestimmten Kultserien inzwischen ein eigenes Segment innerhalb seines Programms für Fernsehbücher geschaffen. Auch bei uns findet man ein paar Taschenbücher, die sich auf unterschiedlichem Niveau mit Erfolgsserien wie Dallas, Denver Clan und Miami Vice beschäftigen. Im Gegensatz zu den ernsthaften angelsächsischen Büchern sind diese meist schnell und schlampig gemacht, nur für das kurzfristige Anhängen an eine aktuelle Erfolgsserie gedacht.
In den USA war es gerade der Erfolg von Miami Vice und die damit verbundene Auseinandersetzung über eine neue Ästhetik der Fernsehserie, die ein über das Triviale hinausgehendes Interesse auf breiterer Ebene an dieser Form vorantrieb. Das ästhetisch Neue an Miami Vice sensibilisierte über das Faninteresse hinaus Wissenschaftler und Medienjournalisten, sich auf einer ernsthafteren Ebene mit der Fernsehserie als Form zu beschäftigen. Dabei mußte erstmal Grundlagenarbeit geleistet werden, die in den USA und England inzwischen so gut wie abgeschlossen ist, indem das rein produktionstechnische Datenmaterial der über 40jährigen Geschichte der Fernsehserie lexikalisch erfaßt wurde.
Inzwischen geht die Auseinandersetzung tiefer. Die Erforschung von Produktions- und Marketingmechanismen und der Beginn einer Theoriebildung wird auch von der Industrie selbst unterstützt. Sie verspricht sich Erkenntnisse, die sie für die weiterhin stark steigende Serienproduktion nutzen kann. Die inhaltliche und formale Originalität von Serienkonzepten (man denke nur an die surrealistischen Serien Mit Schirm, Charme und Melone oder das Popgesamtkunstwerk Nr. 6 oder an die dialogtechnisch einem Spielfilm zur Ehre gereichende Männerwirtschaft), an denen zum Teil namhafte Schriftsteller mitgewirkt haben, hat eine eigene Kunstform entstehen lassen, die nach eigenen Gesetzen funktioniert. Die Entwicklung dieser speziellen Ästhetik und Dramaturgie ist ein spannendes Stück Mediengeschichte. Bei der Beschäftigung mit einzelnen Serien wird man feststellen, daß diese hervorragend dazu geeignet sind, Erkenntnisse über die Zeit, in der sie entstanden, zu liefern.
Ähnlich wie die Rockmusik sind TV-Serien ein weltweites Phänomen. US-Serien (und die von ihnen vermittelten Normen) faszinieren die Menschen rund um den Globus. Seit den sechziger Jahren haben die Amerikaner ihre Marktführerposition weiter ausbauen können. Und neben der Mondlandung war es eine Serienfolge, die erstmals die Menschen auf allen Kontinenten gleichzeitig vor die Mattscheibe zog: Die Serie Auf der Flucht endete im August 1967 gleichzeitig in den USA, Japan, Kanada, Australien und Großbritannien. (Bei uns wurde der letzte Teil allerdings erst am 20. November 1967 ausgestrahlt, sinnigerweise dem Tag, an dem Oberjäger Eduard Zimmermann zum ersten Mal mit XY ungelöst auf die Pirsch ging.) Das ganze Ausmaß dieses Ereignisses, bei dem erstmals die halbe Welt geschlossen vor dem Fernseher saß, um gleichzeitig ein amerikanisches Phantasieprodukt zu bestaunen, kann man wohl erst heute richtig beurteilen.
Serien und Serials (die kinomatographischen Vorläufer von Serien und Miniserien) haben eine lange Tradition in der Populärkultur. Bereits die Massenliteratur des letzten Jahrhunderts, von Feuilletonromanen wie Victor Hugos Les misérables, der zu Auf der Flucht anregte, über die Kolportage bis hin zur „Dime Novel“ oder dem Groschenheft, entwickelte noch heute gültige Strukturen der Serienform. Zu Beginn des Jahrhunderts wurde das literarische Serienschema auf andere Medien übertragen: auf Comics und Film. Charlie Chaplin und „cliff- hanger-serials“, wie The Perils of Pauline, nutzten die Serienstruktur mit ihrem hohen Wiedererkennungswert, um die Gunst des Publikums zu erobern. In den dreißiger Jahren wurde diese „amerikanische Kunstform wie Jazz“, wie sie Raymond Stedman in seinem ausgezeichneten Buch The Serials. Suspense and drama by installment (University of Oklahoma Press, 1977/2) nennt, in Film, Pulps, Comics und vor allem im Radio perfektioniert.
Jedes Genre, ob Krimi, Science Fiction, Horror, Family oder Komödie, war tauglich zum Serienstoff. Manchmal schuf die Form sogar Inhalte: Die sogenannten Daily Serials, die bei uns erst jetzt durch die privaten Sender angeboten werden, waren ursprünglich für den Hörfunk entwickelt. Der Fachterminus „soap opera“ für diese spezielle Serienform ist auf den Sponsoren zurückzuführen, eine Seifenfirma, die täglich ausgestrahlte Episoden aus einem amerikanischen Familienleben als besonders werbewirksam ansah.
Fernsehserien spiegeln wie Literatur, Comics oder Film ihre Entstehungszeit wider. Es war kein Zufall, als 1968 auf dem Höhepunkt von Hippiebewegung und Jugendrevolte eine erfolgreiche Krimiserie mit drei jugendlichen Protagonisten, die unverkennbar der Gegenkultur zugehörig gezeichnet waren, gestartet wurde: Mod Squad (im deutschsprachigen Raum als Twen Police betitelt). Und es war kein Wunder, daß diese Serie 1973 wegen geringer Einschaltquoten wieder eingestellt wurde, denn die naive Flower-Power-Philosophie und die Ideale der Jugendrevolte begannen sich zu verflüchtigen. Die verlogene Aussöhnung zwischen den Werten der jüngeren Generation und der der Mittelschicht war kein Thema mehr. Vielleicht bemerken die Produzenten von Fernsehserien den sogenannten Zeitgeist früher durch das unreflektierte Votum der Einschaltquoten.
Gefragt waren Mitte der siebziger Jahre plötzlich strenge, aber verständnisvolle Polizisten mit Individualität, wie sie in den frühen sechziger Jahren nie vorstellbar gewesen wären, Kojac oder Columbo etwa. Und mit einer Figur wie dem Ex- Sträfling und Wohnwagenbewohner Rockford wurde auch vorgeführt, wie die Aussteiger der 60er ihren Frieden mit dem System machen konnten. Die Polizeirabauken der Erfolgsserie Starsky & Hutch führten vor, wie äußerlich Angehörige der Gegenkultur brutal Law & Order durchsetzten.
Fernsehserien bestimmen nicht nur Moden und verbreiten nicht nur weltweit Gesichter. Sie vermitteln auch Verhaltensmuster, nicht unbedingt bewußt manipulativ, sondern indem sie sie aus der Gesellschaft, die sie reproduzieren, filtern und dramaturgisch verdichten. Die weltweite Präsent amerikanischer Denkmuster, Moden und Kultur hat im hohen Maß mit dem Erfolg der US- Fernsehserien zu tun, die aufgrund ihres jahrzehntelangen produktions- und vertriebstechnischen Vorsprungs und ihrer anregenden Produktionsbedingungen, die es immer wieder schaffen, hochbegabte Leute an sich zu binden, immer noch weltweit die attraktivste Serienware herstellen (und diese auch durch ein nach 40 Jahren Erfahrung perfektioniertes, aggressives Marketing erfolgreich vertreiben können) und für andere nationale Serienproduktionen Vorbildcharakter haben.
Jeder große Publikumserfolg hat Gründe, die nicht an der Oberfläche sichtbar sind. Jeder Film, der über 100 Millionen Dollar einspielt, gibt dem Publikum mehr als nur Spannung oder Gelächter. Diese Filme haben eine Wirbelsäule, ein Herz und ein Gehirn. Die Wirbelsäule ist das Thema des Films, das Herz die Botschaft und das Gehirn die Geschichtenkonstruktion. Fernsehserien sind über lange Zeiträume gegenwärtig. Die Art, wie man sich an eine Fernsehserie erinnert, unterscheidet sich von der Erinnerung an einen Kinofilm. Beim Film erinnert man sich meistens an die Story, den Plot und an bestimmte Szenen, während bei Fernsehserien vor allem das Serienkonzept und die Charaktere in Erinnerung bleiben. Und genau diese sind besonders zeitgebunden und sagen vieles über ihre Epoche aus.
Es scheint mir jedenfalls sehr wahrscheinlich, daß sich auch bei uns eine künftige Kritikergeneration mit Fernsehserien beschäftigen wird — vielleicht mit einem ähnlichen Effekt wie die Aufwertung des Western und des Film Noir durch die französische Kritik der fünfziger Jahre.
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