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Kohl knackt Menschen

Wenn man Kohl bisher immer nur für harmlos und egoistisch gehalten hat, beantrage ich jetzt den Titel „gemeingefährlich“. Schon vor seinem Besuch in Bitterfeld sagte er zu protestierenden Jugendlichen in Leipzig: „Was wollt Ihr denn, ihr Pöbel?“ ('Zeit‘ Nr. 19). Und jetzt der Besuch in Bitterfeld: Menschen, die zu 30 Prozent arbeitlos und zu 50 Prozent kurzarbeitend sind, zu sagen, die einheimische Chemieindustrie solle sich gesundschrumpfen, ist schon eine Unbeschreiblichkeit sondergleichen. Dann aber den in Wirklichkeit hilflosen Arbeiter körperlich anzugreifen und hinterher als „vagabundierenden Demonstranten mit terroristischem Einschlag“ zu bezeichnen, ist seelische Grausamkeit.

Sicher, er hat Kohl mit Eiern beworfen und hat seiner Wut und seiner Enttäuschung auf eine nicht ganz hoffähige Art und Weise Platz gemacht. Aber wie sollte er auch. Auf die Menschen dort hört niemand, und es ist gar nicht so unwahrscheinlich, daß der von Kohl angegriffene Eierwerfer ihn auch gewählt hat. Den Menschen wurde das Blaue vom rußverhangenen Himmel heruntergelogen, jetzt stecken sie in der Klemme und der Kanzler meint, Eiferwerfen mit Handgreiflichkeiten und ebenso wüsten Beschimpfungen quittieren zu müssen.

Die Ideologie und das Menschenverständnis, die hinter und in Kohl stecken, sind relativ zu seinem Bildungsstand (er soll ja angeblich studiert haben) und seiner sozialen Stellung (kein Wort darüber) unglaublich niederer als die eines Halbstarken, der aus sozialer Not Autos knackt. Kohl knackt Menschen.

Die Hilflosigkeit, in die ich gerate, wenn ich mir diesen Arbeiter vorstelle, hemmt meine Diskussionsfähigkeit mit Kohl und seinem Stil ungemein. Ich habe das Gefühl, den Kloß im Hals nicht durch ein einziges Kreuzchen in vier Jahren herunterwürgen zu können, sondern ich müßte schon die Produktion einer ganzen Legebatterie auf das Kanzleramt abwerfen, auch wenn das nicht gerade die feine englische Art ist — aber was soll man gegen diese rechtsstattliche Willkür denn noch unternehmen? Sebastian Lovens, Duisburg

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